: DAS AUTOMOBILGESICHT
Hernri Fourniers Theorie der Chauffeursphysiognomie von Anno 1902 ■ D O K U M E N T A T I O N
Selbst der vorsichtigste Automobilist ist auf seiner Fahrt nicht gegen einen Unfall gefeit. Ich glaube, es gibt überhaupt keinen anderen Sport, der so reich an Aufregungen ist. Es gehört ein tapferes Herz, ein kräftiges Nervensystem und ein scharfer Blick dazu, um diesem Sport zu huldigen. Meiner Ansicht nach kommt der Luftschiffer nicht in so viele Gefahren, wie sie der Automobilist zu gewärtigen hat.
Es ist gewiß kein Scherz, wenn ich von einem Automobilgesicht spreche. In den Zügen des Automobilisten haben die tausend durchgemachten Gefahren, das knappe Vermeiden des Unglücksfalles ihre Spur zurückgelassen. Ich hatte nur einmal ein Unglück, allerdings ein sehr ernstes, denn wir waren zusammengestoßen und verletzt, bevor mir zu Bewußtsein kam, was uns drohte.
Anfangs ist jeder Automobilist mehr oder weniger ängstlich, sofern er einen gesunden, klaren Verstand besitzt. Nur ein Unvernünftiger kennt das Wort Furcht nicht. Aber mit jeder Fahrt wächst das Selbstvertrauen, der Glaube an sich und seine Maschine. Einmal ein fertiger Chauffeur, ist er mit seinem Wagen ebenso verwachsen, wie der Reiter mit seinem Pferde, der Yachtsman mit seinem Schiffe. Er fliegt über die Straße, er labt sich an dem Genusse einer blitzschnellen Fahrt, und fühlt sich frei wie der Vogel in der Luft. Daß er sich verletzen könnte, kommt ihm ebenso wenig in den Sinn, wie dem Windhunde oder der Schwalbe.
Nur der eine Gedanke macht ihm Sorge, vielleicht mit einem anderen Vehikel zusammenzustoßen oder Jemanden zu überfahren. Die größte Gefahr bilden für ihn die spielenden Jungen auf der Straße, namentlich in den Vorstädten, an der Peripherie der Stadt, wo sich die Kinder achtlos mitten auf dem Fahrwege umhertummeln.
Kein Thier auf der ganzen Welt ist so unvorsichtig wie solch ein spielender Straßenjunge. Kein Wesen jagt daher dem Automobilisten einen größeren Schrecken ein, als dieser. Ich bin oft mit meinem Automobil auf den Straßen einer Vorstadt gefahren. Vor mir war, soweit mein Auge reichte, kein menschliches Wesen zu erblicken, das etwa die Straße kreuzen wollte. Da, mit einem Male, ich weiß nicht, aus welchem Versteck, jagt so eine wilde Knabenhorde über den Weg, und ich sehe sie schon im Geiste unter den Rädern liegen.
Dies ist für mich die stärkste Nervenaufregung, die mir im Automobil widerfahren kann. Der erste Schrecken krampft mir das Herz zusammen, daß ich nur mehr einen kleinen Kieselstein zu fühlen glaube. Jeder Nerv meines Körpers scheint sich zu einem Knoten verschlungen zu haben. Die Augen quellen hervor, und der Chauffeur sieht im Geiste schon das grauenvolle Bild des verstümmelten, blutenden Knabenleibes im Staube der Straße. Seine Hand fährt hastig nach der Bremse, er will noch schnell die Rückwärtsfahrt einschalten und die Motorkraft aufheben. Wie durch ein Wunder entkommt der Knabe der Gefahr. Der gewaltige Luftzug reißt ihm noch die Kappe vom Kopf. Ein Fünfzigstel einer Secunde lang schwebte er zwischen Leben und Tod.
All diese Umstände verleihen dem Fahrer das typische Automobilgesicht, dessen Eigenthümlichkeiten man in medicinischen Kreisen bereits zu beachten beginnt. Die beständige, hochgradige Aufmerksamkeit während der Fahrt, die Bedienung der Maschine mit all ihren Apparaten, das rasche Abschätzen von Distanzen zwischen dem Wagen und einem Hindernis, muß mit der Zeit den Muskeln um Augen, Mund und Ohren jenen Spannungsgrad verleihen, welcher für das Automobilgesicht charakteristisch ist. Am meisten aber prägt sich in diesen Zügen die Angst aus, eventuell die unschuldige Ursache einer verhängnisvollen Katastrophe zu werden.
Henri Fournier
'Allgemeine Automobil-Zeitung‘, März 1902. Entnommen aus: „Facsimile-Querschnitt - Frühe Automobil-Zeitschriften“, Scherz Verlag
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