: Die antifaschistischen Stalinisten treten ab
Der unaufhaltsam wachsende gesellschaftliche Druck hat dazu geführt, daß innerhalb von eineinhalb Wochen eine ganze politische Generation der SED aus dem Zentrum der Macht entfernt worden ist: die Generation der alten antifaschistischen Stalinisten. In dieser doppelten Erfahrung liegt die Tragik jedes einzelnen von ihnen. Am Freitag wurden fünf Vollmitglieder des Politbüros dazu überredet, „freiwillig“ ihren Rücktritt zu erklären:
Hermann Axen (73), seit 1966 Sekretär des Zentralkomitees für Internationale Verbindungen, stammt aus Leipzig. Er war 1932 dem Kommunistischen Jugendverband (KJV) der KPD beigetreten. Nach 1933 arbeitete er in der Illegalität, wurde 1935 verhaftet und vom Oberlandesgericht Dresden zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach seiner Haftentlassung flüchtete er 1938 nach Frankreich, wurde 1940 festgenommen und bis 1945 in Konzentrationslagern inhaftiert. Im KZ trat er 1942 der KPD bei. 1946 war Axen einer der Mitbegründer der Freien Deutschen Jugend (FDJ). 1950 wechselte er in das Sekretariat des ZK über. Von 1956 bis 1966 war er Chefredakteur des 'Neuen Deutschland‘. In seinem letzten Amt als ZK-Sekretär für Internationale Verbindungen war er führend an den Bemühungen der SED beteiligt, jede reformerische Öffnung in den Warschauer-Pakt-Staaten zu verhindern.
Kurt Hager (77), seit 1955 ZK-Sekretär für Wissenschaft und Kultur und „Chefideologe“ der Partei, ist in Stuttgart aufgewachsen. Nach dem Abitur arbeitete er als Journalist und trat 1930 der KPD bei. Nach 1933 wurde er kurze Zeit inhaftiert, arbeitete danach in der Illegalität und flüchtete 1937 ins Ausland. 1937 bis 1939, während des spanischen Bürgerkriegs, war er Direktor der Auslandsprogramme von Radio Madrid. Anschließend lebte er als Journalist in Frankreich und England.
1945 in die sowjetische Besatzungszone zurückgekehrt, zurückgekehrt, arbeitete Hager von Anfang an im zentralen Parteiapparat. 1949 wurde ihm - neben seinem Posten als Leiter der Abteilung Propaganda im ZK-Apparat - der Lehrstuhl Philosophie an der Humboldt-Universität übertragen. Im gleichen Jahr beteiligte er sich an der politischen Vorbereitung eines deutschen Schauprozesses. In dem Vorwort zu einer Publikation („Laszlo Rajk und Komplizen vor dem Volksgericht“) schrieb er, der Budapester Schauprozeß habe „uns (gelehrt), daß jeder faule Liberalismus gegenüber der Schädlingsarbeit der Tito-Agenten und anderer Trotzkisten ein Verbrechen an der Arbeiterklasse“ ist.
Das ZK-Sekretariat für Kultur und Wissenschaft, das er seit 1955 leitete, war dafür zuständig, kritischen Geist in den Universitäten abzutöten, ein Unternehmen, das - wie man jetzt sieht - nicht vollständig gelungen ist. Beim Aufbau einer Abwehrfront gegen den reformerischen Wind aus dem Osten war er zeitweilig der führende Ideologe.
Erich Mielke (81), seit 1957 Minister für Staatssicherheit, wurde in Berlin geboren. Der gelernte Speditionskaufmann war seit 1925 Mitglied der KPD. 1928 bis 1931 war er Reporter der 'Roten Fahne‘. Seine journalistische Laufbahn endete abrupt im August 1931. Der „Parteiselbstschutz“ der KPD hatte ihm und anderen einen fatalen Auftrag erteilt: Offenbar als Vergeltung für die Erschießung eines jungen Arbeiters durch die Polizei am Vortag ermordeten sie am Berliner Bülowplatz zwei Polizeibeamte. Mielke konnte, während seine Mittäter verhaftet wurden, in die Sowjetunion fliehen. Von dort aus ging er während des Bürgerkrieges nach Spanien. 1940 in die Sowjetunion zurückgekehrt, soll er dort beim Geheimdienst gearbeitet haben.
Nach 1945 baute Mielke in der sowjetischen Besatzungszone, zuständig für Kaderpolitik und Schulung, den Polizeiapparat auf. 1950 - inzwischen war er Staatssekretär im Ministerium für Staatssicherheit geworden - bereitete Mielke gemeinsam mit den sowjetischen „Beratern“ einen Schauprozeß (der dann allerdings nicht stattfand) gegen das SED-Politbüromitglied Paul Merker und andere nach dem Muster des Budapester Prozesses vor. Seine beiden Vorgänger Zaisser und Wollweber wurden 1953 bzw. 1957 wegen reformerischer Neigungen gestürzt. Mielke hat diese Karrierebrüche seiner damaligen Vorgesetzten unbeschadet überstanden. Seit er 1957 Stasi -Chef wurde, hat dieses Ministerium nur noch als Behörde zur Produktion von Angst von sich reden gemacht.
Erich Mückenberger (79) war zuletzt der einzige ehemalige Sozialdemokrat in der SED-Spitze und wurde, wohl weil man ihm wegen seiner politischen Herkunft ein feines Gehör für „Abweichungen“ zutraute, 1971 zum Vorsitzenden der Parteikontrollkommission ernannt. Er wurde in Chemnitz geboren, war von Beruf Schlosser und trat 1927 in die SPD ein. In der Nazi-Zeit war er mehrmals im Gefängnis und im KZ. Nach dem Krieg zuerst wieder SPD-Mitglied, machte er nach deren Zwangsvereinigung mit der KPD in der SED sehr schnell Karriere. Mückenberger ist seit 1978 Präsident der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaftsgesellschaft (DSF) und war dort seit 1985 darum bemüht, daß in ihren Publikationen möglichst wenig von dem neuen Geist im Osten spürbar wurde.
Alfred Neumann (80) schließlich, einer der beiden Ersten Stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates, war von Beruf Tischler. 1929 trat er der KPD bei, nach 1933 arbeitete er in der Illegalität und flüchtete Ende 1934 über Skandinavien in die Sowjetunion. 1938/39 kämpfte er im spanischen Bürgerkrieg, 1939/40 war er in Frankreich interniert. 1941 kehrte er klandestin nach Deutschland zurück, wurde verhaftet und zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Als SED-Funktionär arbeitete Neumann bis 1957 in der Berliner Bezirksleitung der SED, dann wechselte er in den ZK-Apparat und wurde schließlich 1961 Minister und Vorsitzender des Volkswirtschaftsrates.
Zu der politischen Generation, aus der diese Männer kommen, gehören noch drei weitere Führungskader. Einer von ihnen, Erich Honecker (77), ist bereits gegangen worden. Zwei sind noch im Amt und im Politbüro: Willi Stoph (75), der Vorsitzende des Ministerrates, und Horst Sindermann (73), Präsident der Volkskammer. Ihr letzter Beitrag zum politischen Umbruch in der DDR steht erst in einigen Tagen an. Offenbar sollen sie noch helfen, ein bereits beschlossenes Ereignis möglichst effektvoll zu gestalten: den Rücktritt der gesamten Regierung.
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