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Scheibchenweise Zugeständnisse

■ Das „Aktionsprogramm“ der SED / Krenz will das Machtmonopol der SED nicht antasten / Von Walter Süß

Eine hektische Politbürositzung am Freitag nachmittag, danach wurde SED-Generalsekretär Egon Krenz vor die Fernsehkameras geschickt: Den Rücktritt von fünf Politbüromitgliedern zwischen 73 und 81 Jahren durfte er verkünden - und ein halbherziges „Aktionsprogramm“. Es verspricht zwar ein Verfassungsgericht und den Abbau von Privilegien, stellt aber weder die Nomenklatur als solche noch die Alleinherrschaft der Partei in Frage.

Am Freitag nachmittag noch hatte Karl-Heinz Schöneburg, einer der führenden DDR-Staatsrechtler, in der Ostberliner Akademie der Künste vor einem „Herumdoktern an einzelnen gesetzlichen Bestimmungen“ gewarnt. Genau dieser Gefahr entging Egon Krenz mit seiner Fernsehansprache wenige Stunden später nicht. Unmittelbar nach einer wahrscheinlich stürmisch verlaufenen Politbürositzung hat Krenz dort „Grundzüge eines Aktionsprogrammes“ vorgestellt. Doch diese Grundzüge benennen im wesentlichen nur Themen - nicht die Inhalte - der neuen Politik.

Eine „Reform des politischen Systems“ kündigt Krenz an: „Wir schlagen die Einrichtung eines Verfassungsgerichtshofes vor, der über die Einhaltung der Verfassung wacht. Eine Verwaltungsreform ist unumgänglich. Ein Vereinigungsgesetz ist auszuarbeiten.“ Ein Verfassungsgericht wäre sicherlich ein erster Schritt, um die Willkür der Ministerien und des hinter ihnen stehenden ZK-Apparates einzuschränken, die verfassungsmäßige Rechte mit Hilfe von Verordnungen den Apparatbedürfnissen anzupassen pflegen. Zugleich wäre damit eine Aufwertung der Volkskammer verbunden, die für die Verabschiedung von Gesetzen zuständig ist.

Allerdings kann selbst ein Verfassungsgericht, das nicht nur aus SED-Mitgliedern bestünde, lediglich die Übereinstimmung von Gesetzen mit der Verfassung prüfen nicht die Verfassung selbst ändern. Dort aber hat die SED in Artikel 1 ihre „führende Rolle“ festgeschrieben. Eine wirkliche politische Reform ist deshalb ohne eine Verfassungsänderung undenkbar, doch ein solches Vorhaben hat Krenz wohlweislich nicht erwähnt.

Die gleiche Einschränkung gilt für das von Krenz erwähnte Vereinigungsgesetz. Sicher ist es ein Fortschritt, wenn über die Zulassung oder Ablehnung - wie zuletzt beim „Neuen Forum“ - nicht mehr durch das Ministerium des Innern im direkten Auftrag der SED entschieden wird, sondern wenn dafür eine einklagbare gesetzliche Grundlage existiert. Doch in Artikel 29 der Verfassung der DDR ist festgelegt, daß „gesellschaftliche Organisationen“ die Führung der SED anzuerkennen haben. Solange diese Passage nicht gestrichen ist, kann noch gegen jede Organisation mit dem Knüppel der „Verfassungsfeindlichkeit“ vorgegangen werden.

Krenz verspricht eine „Demokratisierung der Kaderpolitik„, erwähnt aber nicht den entscheidenden Begriff: die „Nomenklatur“, mit deren Hilfe der SED-Apparat Posten und Kader verschiebt. Solange sie nicht abgeschafft ist, bleiben die Kaderabteilungen der Einheitspartei entscheidend. Die angekündigte „Begrenzung der Zeitdauer für die Ausübung von Wahlfunktionen„ folgt sowjetischem Vorbild und kann einer Überalterung der Führung entgegenwirken. Mindestens ebenso wichtig aber wäre eine Trennung von Staats- und Parteiämtern - und darüber findet sich in dem „Aktionsprogramm“ nichts.

Die „Schutz- und Sicherheitsorgane“ sollen zu „gesetzestreuem Verhalten“ angehalten werden - das sollte eigentlich selbstverständlich sein. Die Forderung aber, die etwa am Samstag auf der Berliner Demonstration unüberhörbar war, geht darüber weit hinaus: die Abschaffung der „Stasi“, des Ministeriums für Staatssicherheit und seines weitflächigen Spitzelnetzes.

Auf Zustimmung dürfte eine andere Äußerung stoßen: „Wir halten die Kritiken an übertriebener Repräsentation und Inanspruchnahme von Sonderrechten für gerechtfertigt. Solche Praktiken, die weder unserer sozialistischen Moral noch dem Leistungsprinzip entsprechen, müssen verschwinden.„ Die Abschaffung der Privilegien der Kader ist eine Forderung, die derzeit auf jeder Demonstration erhoben wird.

Das gleiche gilt für die „Reform des Bildungswesens„, die überall dort, wo normale DDR-Bürger zu Wort kommen, einen für Außenstehende zuerst überraschend hohen Stellenwert hat. Die Kritik gilt vor allem der autoritären Struktur der Schulen, der systematischen Erziehung zu Doppelzüngigkeit und Opportunismus und der ideologischen Indoktrination bis hin zu „Staatsbürgerkunde“ und „Wehrkundeunterricht“. Diese Punkte hat Krenz in seiner Ansprache nicht aufgegriffen. Schon fast überraschend konkret wurde er dagegen bei einem verwandten Punkt: der Einführung eines „zivilen Wehrersatzdienstes„. Damit wird eine schon lange von der Kirche erhobenen Forderung endlich erfüllt.

Gänzlich vage Egon Krenz‘ Ausführungen zur Wirtschaft: „Das Zentralkomitee wird sich mit Sofortmaßnahmen für Verbesserungen im Alltag beschäftigen. Die Lage erfordert zugleich eine grundsätzliche Änderung der Wirtschaftspolitik, verbunden mit einer umfassenden Wirtschaftsreform.„ Denkt man daran, wie die SED-Spitze noch vor vier Wochen ihr Wirtschaftssystem als Vorbild dafür hinstellte, wie mit wirtschaftlichen Herausforderungen umzugehen sei, so ist das allerdings schon eine bemerkenswerte Feststellung.

Mit der Fernsehansprache des Generalsekretärs hat das gegenwärtige Politbüro am Abend vor der Berliner Großdemonstration versucht, die Initiative zurückzugewinnen. Tatsächlich kann es nur dadurch hoffen, der staatlichen Machtposition der SED Legitimität zu verleihen. Daß das nicht gelungen ist, zeigten die gellenden Pfiffe für Politbüromitglied Schabowski auf der Kundgebung.

In der gegenwärtigen Lage, angesichts einer, wie Krenz selbst es nannte, „bisher nicht gekannten politischen Dynamik“, genügt es nicht mehr, Personalentscheidungen zu treffen und Reformen anzukündigen. Das gilt um so mehr, als dieses „Aktionsprogramm“ um die entscheidenden Probleme der poststalinistischen Struktur einen Bogen macht. Die SED ist gewillt, mehr gesellschaftlichen Freiraum zuzulassen und ihre Kader einer gewissen öffentlichen Kontrolle zu unterwerfen. Aber ihre Führung scheint noch immer nicht begriffen zu haben, daß die Zeiten des garantierten und monopolistischen Zugriffs auf die Macht zu Ende sind. Wenn sich Krenz und Genossen nicht zu dieser Einsicht durchringen, werden sie sich nicht lange halten.

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