: „Lebenslänglich“ im Prozeß von Lugano
Italienische Kronzeugen in einem Schweizer Gerichtssaal / Angeklagter wegen Mordes verurteilt / Alvaro Baragiola soll Mitglied der Roten Brigaden gewesen sein / Der Angeklagte beteuert seine Unschuld / Schweizer Justiz akzeptiert italienische Notstandsgesetze ■ Aus Lugano Andreas Rostek
Die italienische Notstandsgesetzgebung hat ein neues Opfer gefunden - in der Schweiz. Ein Schwurgericht in Lugano schickte am Montag den 34jährigen Alvaro Baragiola lebenslänglich hinter Gitter. Baragiola, in Italien geboren und seit knapp drei Jahren als Sohn einer Tessiner Mutter Schweizer Bürger, wurde wegen Mordes und versuchten Bankraubs verurteilt, die Taten soll er als Mitglied der Roten Brigaden begangen haben. Die einzigen Belastungszeugen gegen den Angeklagten, der immer wieder beteuerte, nie Mitglied der brigate rosse gewesen zu sein: zwei pentiti, sogenannte reuige Terroristen, die sich als Kronzeugen gewaltige Strafnachlässe erkauft hatten.
Mit dem Urteil macht sich ein Schweizer Gericht mit Verspätung Gesetze aus den bleiernen Jahren des italienischen Antiterrorismus zu eigen, die im Nachbarland nach wie vor heftig umstritten sind und von denen selbst der jetzige italienische Justizminister Vasalli sagt: „Gesetze wie unter Kriegsrecht.“ Und im Gerichtssaal erkannten die Verteidiger von Baragiola: „Die Staatsräson eines anderen Staates überlagert die Prinzipien des Rechts hier.“
Während des vierwöchigen Verfahrens versuchten die Verteidiger vergeblich, diesen Prinzipien Geltung zu verschaffen: allen voran dem im Schweizer Recht verankerten Verbot, Zeugen für ihre Aussagen Versprechungen zu machen. Aber auch das Gebot, daß die mündliche(!) Befragung der Zeugen unter Anwesenheit des Angeklagten und der Öffentlichkeit ein Schweizer Strafverfahren kennzeichnen müßten, wurde bei diesem Stellvertreterprozeß mißachtet.
Der Luganeser Staatsanwalt tat von Anfang an so, als gebe es für ihn keine pentiti, sondern lediglich Zeugen, die selbst auch etwas angestellt haben. Dieser Verschleierungstaktik folgte das Gericht, und so wurden aus den reuigen Justizgewinnlern, die Baragiola belasteten, Auskunftspersonen, die lediglich einen Mittäter verrieten.
Massimo Cianfanelli und Walter Di Cera zeigten sich in Lugano als Profis der Aussage; sie brachten seit ihrer Verhaftung Anfang der achtziger Jahre eine Unzahl von früheren Gesinnungsgenossen hinter Gitter. Cianfanelli wurde unter anderem wegen des Mordes verurteilt, der auch Baragiola angelastet wird: wegen des tödlichen Attentats auf den Richter Girolamo Tartaglione 1978 in Rom. Im Mai 1981 verhaftet, verbrachte Cianfanelli dafür knappe fünf Jahre im Kanst. Ähnlich Di Cera: Verurteilt wegen des Überfalls auf die Banca Nazionale delle Communicazioni in Rom, den auch Baragiola vorbereitet haben soll, durfte er nach zwei Jahren Haft in den Hausarrest. Die Gesetze über die „Kronzeugen“ sehen vor, daß der Strafrabatt widerrufen wird, wenn die pentiti der Falschaussage überführt werden oder sich zögerlich zeigen in der Zusammenarbeit mit der Justiz. Die Verteidiger Baragiolas warfen dem Gericht zum Schluß vor, illegale Beweismittel - die Kronzeugen - und zulässige Beweise in beliebiger Weise vermischt zu haben.
In der Tat hatte das Geschworenengericht mit mehreren Zeugen, auch während einer Reise nach Rom, versucht, die Aussagen der pentiti zu verifizieren. Dem Angeklagten war dafür von Rom kein freies Geleit zugesichert worden, die Verteidiger blieben folglich wie er zu Hause und verzichteten auf eigene Zeugen, die nicht nach Lugano kommen konnten. Bei Verhören im Hochsicherheitsknast von Foliano bei Rom mußte auch die Presse vor der Tür bleiben.
Der Angeklagte, auch in Italien bereits verurteilt, schwieg zu fast allem. So gab er auch keine Antwort auf die Frage, warum ihn mehrere Rotbrigadisten als einen der ihren bezeichneten: mit dem Decknamen „Otello“. Er versuchte auch nicht der Frage nachzugehen, warum andere - Chefs der brigate rosse - aussagten, ihn nicht zu kennen.
Daß er „von einer Erhebung des Volkes geträumt“ habe, daraus machte Baragiola nie einen Hehl. Sein Fall wird irgendwann vor die Europäischen Menschenrechtskommission kommen.
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