: Die Wut in Leipzig nimmt zu
Massenproteste gegen Reisegesetz / „Wir brauchen keine Gesetze, die Mauer muß weg!“ / Hunderttausende auf den Straßen / Auch SED-Reformer wurden ausgebuht / „Neues Forum“ ist faktisch legalisiert ■ Aus Leipzig Klaus Hartung
Christoph Heins Wort von der „Heldenstadt der DDR“ ausgesprochen auf der Kundgebung am Alexanderplatz - nahmen die Massen von Leipzig zwar dankbar auf an diesem Montag. Das war aber auch alles an Dankbarkeit. Wieder waren mehrere Hunderttausend bei Eiseskälte und Dauerregen gekommen, und sie waren wütender denn je. Das am selben Tag veröffentlichte Reisegesetz stieß auf einhellige Ablehnung. Ein lakonisches Transparent für viele: ein Paragraphenzeichen und „Wir bleiben Bittsteller“.
Zum ersten Mal gibt es eine richtige spontane Kundgebung auf dem Karl-Marx-Platz. Eine kompakte Masse von Regenschirmen. „Jetzt haben wir vierzig Jahre gewartet, da macht der Regen auch nichts mehr.“ Es reden eine Rentnerin, Arbeiter, es spricht ein Vertreter des Neuen Forums; es reden der amtierende Oberbürgermeister (der bisherige mußte „wegen der Ereignisse“ zurücktreten) und der 1. Bezirkssekretär Wörtzel. Auch Wörtzel ist neu im Amt. Beide SED-Vertreter hatten schon zu Honeckers Zeiten den Dialog gefordert, beide hatte am 9. Oktober bei Krenz interveniert und Schlimmeres verhindert.
Der neue Oberbürgermeister feiert sofort die Demonstranten: „Wichtige Impulse für die ganze Republik.“ „Ich will mich nicht aus der Verantwortung stehlen“, sagt er. Er will verhindern, daß „Berlin weiter hineinregiert“, will eine „radikal“ veränderte Arbeitsweise der Stadtverordneten. „Was in Leipzig erarbeitet wird, soll von jetzt an auch Leipzig zugute kommen.“ Mehr noch: Er will sich Wahlen stellen und will gar das Neue Forum in diesem Zusammenhang anerkennen. Wörtzel beschwört die Massen, nicht „die kleinen Pflanzen, die jetzt gewachsen sind“, wieder zertreten zu lassen. Auf das Wort von den kleinen Pflanzen antwortet ein einziger Wutschrei. Der Bürgermeister kommt kaum, der 1. Bezirkssekretär kommt überhaupt nicht zu Wort. „Zu spät, zu spät“, skandieren die Massen. Und: „SED - das tut weh“, „Abtreten!“, „SED muß weg!“
Die Wut hat zugenommen. Von Dialog reden nur noch die SED -Vertreter. Rücktritte, die der Regierung und überhaupt aller, werden gefordert. Noch nie waren die Anti-SED Parolen so stark vertreten. Ein Plakat zeigt den Händedruck im Wappen der SED und darunter nur noch das Wort: „Tschüß“. Aktueller Anlaß des Massenzorns war das Reisegesetz: ein Arbeiter („Ich heiße Olaf Reiche und wohne Grimmaische Straße 19“): Er habe am Morgen gar nicht daran gedacht, hier zu reden. Aber dann habe er die 'Leipziger Volkszeitung‘ gelesen, das Reisegesetz. Olaf Reiche tobt: „Da steht nur 'die DDR-Bürger haben das Recht‘, da steht wieder nicht 'jeder Bürger hat das Recht‘!“ empört er sich. „Nun sollen dieselben, die uns immer gedemütigt haben, wieder über unser Schicksal entscheiden!“ - „Wir brauchen keine Gesetze, die Mauer muß weg“, skandiert die Menge. Olaf Reiche redet weiter: „Jetzt sollen wir Reisen dürfen, mit dem Bettelsack auf dem Rücken!“ „In dreißig Tagen um die Welt, ohne Geld“, rufen die Massen. Olaf Reiche schließt unter riesigem Beifall: „Das Reisegesetz muß weg!“
In Leipzig nimmt jedenfalls der Druck zu. Das weiß auch das Neue Forum. Dessen Organisationsprozeß ist noch nicht abgeschlossen, immerhin aber hat es schon ein organisatorisches Netz über den Bezirk geworfen.
Regionaltagungen haben in der letzten Woche stattgefunden, die ersten ordentlichen Wahlverfahren stehen ins Haus. Inzwischen trifft man sich öffentlich, in Jugendklubs beispielsweise. Allein 25 Betriebsgruppen gibt es. Aber das „Neue Forum“ will - gerade wegen des Drucks der Massen und der Zeit - auf jeden Fall verhindern, daß mehr an Organisation und Programmatik vorgetäuscht wird als besteht. Kein neuerlicher Betrug der Leute, auch wenn in bester Absicht, betont Micheal Arnold, einer der bislang ernannten Sprecher. Das Neue Forum wird deswegen auch die Dialogoffensive der SED ablehnen. Für die inhaltliche Arbeit haben sie sich zwei Monate gegeben. Erste Ergebnisse liegen schon vor. In Leipzig hat sich die Opposition geeinigt: Von „Demokratie jetzt“ bis zur SDP stellt sie sich unter das Dach des Neuen Forums.
Hat die Opposition diese Organisationsfrist? „Ist dir aufgefallen, daß niemand mehr die Internationale gesungen hat?“ sagt eine Frau auf dem Nachhauseweg. In der Tat, das Lied von der Internationale, die das Menschenrecht erkämpft, ist verstummt in Leipzig.
Während am Sonnabend auf der Demo in Ost-Berlin die Redner noch davon sprachen, daß die alten sozialistischen Formeln sich wenden und ein neuer Inhalt zutage trete; während sie wie Christa Wolf - den demokratischen Sozialismus („Stell dir vor, es ist Sozialismus und keiner geht weg“) beschworen, ist es in Leipzig Schluß mit der Dialektik. Die verfallende, ruinierte „Heldenstadt“ fordert „alles“ und „jetzt“. Nur ein einziges Transparent unter Tausenden versuchte anzuknüpfen an die Klassenkampftradition: „Auf diese Demo wäre Ernst Thälmann stolz.“
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