: Von Perestroika zum Pulverfaß
■ „Entzündungsherd DDR“ gefährdet Michael Stürmers stabilen Weg zur europäischen und deutschen Einigung
Wer immer noch meint, „die Rechten“ warteten nur drauf, die DDR fix wiedervereinigt einzusacken, hätte nicht schlecht gestaunt bei dem Vortrag des Erlanger Neuzeithistorikers und Kanzlerberaters Michael Stürmer vor der Wittheit im großen Festsaal des Bremer Rathauses. Sogar „Lippendienste für die deutsche Einheit“, eine Spezialität der CDU seit Adenauers Entscheidung für den Nato-Betritt, „sind nicht mehr ungefährlich“. Wie die Palästinafrage seit der Bibel und die Dardanellenfrage seit der Ilias, so sei auch die deutsche Frage nicht grundsätzlich zu lösen. Beschwörend warnte Stürmer immer wieder die „kind
lichen Träumer“ und „Rührend-Naiven“, die meinten, die deutsche Einigung sei isoliert von der europäischen zu haben und die Sowjetunion, immer noch die „größte militärische Zusammenballung in der Geschichte“, werde dem Verschwinden der DDR zusehen.
Zweierlei transportierte der atemlose Vortrag Stürmers: ein Konzept für „Die Rolle Deutschlands im europäischen Einigungsprozeß“, wie er es hatte, als die Wittheit den Vortrag vor Monaten bei ihm bestellt hatte und den Schock über die Massenflucht aus der DDR, die in dieses Konzept nicht paßt.
Das Konzept ist Adenauer-alt,
es heißt Integration West-Europas. Den Umbruch in Osteuropa und in der SU, die darin ursprünglich nicht vorkamen, hatte Stürmer Zeit gehabt, unterzubringen: Integration plus Assoziation (osteuropäischer Staaten). Ein integriertes Westeuropa werde nötig, um den sich auftuenden Armenhäusern Osteuropas, vor allem dem polnischen, mit massiven Investitionen zu helfen. Westeuropa soll aber auch, neben der Sowjetunion, als Konfliktregler für Osteuropa fungieren, nachdem Comecon sich praktisch aufgelöst habe.
„Wenn sich ganz Osteuropa umgestaltet, dann ist das unsere Chance, dem nuklearen Dilemma
zu entgehen“, sagt Stürmer im Hinblick auf die „Sollbruchstelle im Bereich der Mittelstrecken“, die durch Mitteleuropa gehe. Anderseits erhöhe aber die Auflösung der osteuropäischen Ordnung und die jeder Steuerung entglittene Krise in der SU die Gefahr von Konflikten und Kriegen dramatisch. Deshalb Stürmers sarkastische Wendung gegen die „ach so armen“ Bundesdeutschen, die „Solidarität nur für sich selber“ aufbringen und meinen, „weiter in ihrer Villa sitzen zu können oder in der sozialen Hängematte zu baumeln und zuzusehen, wie die drüben in Osteuroapa verrotten und verhungern und das werde auch noch friedlich
abgehen.“
Der Knacks in Stürmers Konzept des „stabilen, langfristig, kalkulierbaren Prozeß des Ausgleichs“ zwischen West und Ost -Europa ist „der Entzündungsherd DDR“. - „Hier geht eine ganze Generation!“ Für das „System, das in sich kollabiert“ sieht er, zu seinem Ensetzen, „keinen Haltepunkt“ und angesichts der Größe der aufgeworfenen Probleme „keine Chance für Krenz“. Stürmers langsamer Prozeß des europäischen Ausgleichs „setzt voraus, daß die SED Kraft hat, diese Welle zu reiten und das Volk noch die Geduld hat, das zu dulden. Beides bezweifle ich.“
Uta Stolle
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