: Die Lage der Nation
Der Aufbruch in der DDR und der Bundestag ■ K O M M E N T A R E
Nur ein Satz der Bundestagsdebatte kennzeichnete wirklich die Lage der Nation: „Was in der DDR entsteht, ist die erste selbsterkämpfte Demokratie auf deutschem Boden„ (Antje Vollmer). Diese Einsicht hat zwei Konsequenzen: Es gibt die deutsche Nation, insofern es einen deutschen demokratischen Beitrag zur Weltgesellschaft geben wird, und die Wiedervereinigung gehört der Geschichte an. Einfach darum, weil das, was sich bislang wiedervereinigen sollte, nun schon der Geschichte anheimgefallen ist. Wer die Demokratie im Osten will, muß die DDR als selbständige staatliche Einheit verteidigen. Aber bestenfalls gesamtdeutsche Therapeuten hatten gestern im Bundestag das Wort: Den revoltierenden Massen der DDR gönnt Bonn generös erst einmal eine Periode der Selbstbestimmung; eine Art Wiedervereinigungsquarantäne für die Hitzeperiode der Demokratisierung, um dann mit der Macht der Mehrheit und der Wirtschaft die Frage der staatlichen Einheit auf den Tisch zu legen. Eine Bundestagsdebatte, voll von vager Ahnung der historischen Dimension, von brüchiger Selbstgerechtigkeit und Parteipolitik. Aber kein Begreifen, daß der Osten die politische Initiative hat; daß wir mit der selbstkritischen Revision unserer politischen Überzeugungen und mit gesamtdeutscher Solidarität anworten müssen. Aber wo sind die Ideen, die Programme? Wo ist die Initiative zur Rettung verfallender DDR-Städte, zu einem gesamtdeutschen Reisewerk, zur Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung. Der Verdacht steigt, daß die Bundesregierung auf den Offenbarungseid der DDR spekuliert, weil's dann billiger wird.
Die Bundestagsdebatte hat gezeigt, daß auch Kohl zur Ära Honecker gehört. Beides sind und waren Aussitzer des Status quo. Jetzt, an den Anfängen einer innerdeutschen, innereuropäischen Völkerwanderung, zeigt sich zu unser aller Risiko, daß die inkomptenteste Regierung, die es je gab, in Bonn amtiert. Der Kanzler beschränkt sich auf gesamtdeutsche Zensuren und überläßt faktisch die Politik den Landräten, dem Grenzschutz, dem Roten Kreuz. Statt Sofortprogramme verhandlungsreif zu machen, will die Bundesregierung den „grundlegenden politischen und wirtschaftlichen Wandel“ in der DDR unterstützen. Eine derartige Spekulation auf den Konkurs ist natürlich noch ein zusätzliches Motiv der Flucht aus der DDR.
Die Bundesregierung hat weder ein Konzept für die Fluchtwelle noch für die Flüchtlinge, sie hat Container. Dabei werden die Flüchtlinge noch zunehmen, Flüchtlinge, die der dortigen Opposition weg- und mitten in westdeutsche Besitzängste hineinlaufen. Natürlich wächst die Abwehr der Westler gegenüber den Ostlern. Zugegeben, man kann sie kaum noch sehen, die Trabi-Fahrer in ihren Stone-washed -Jeansanzügen. Nicht nur die Linken in diesem Lande fragen immer gehässiger, was die denn hier wollen, jetzt, wo sich in der DDR alles ändert, wo die Regierung, das Politbüro zurücktritt, wo sich Polizeipräsidenten entschuldigen und nun alle die Demokratie wollen. Warum wollen sie nicht mitdialogisieren, mitdemokratisieren? Sind sie nicht doch Wirtschaftsflüchtlinge, Verräter an der Opposition? Eine gesamtdeutsche Minderheit entsteht, drüben betrauert oder verachtet und hier mißmutig privilegiert.
Aber: Wer will es ihnen verdenken, daß sie nicht an die Opposition, an die Wende glauben. Mit der ersten Zugluft von Freiheit in dieser DDR begreifen eben viele, wie wenig sie bislang geatmet haben. Viele der jungen Arbeiter kennen zudem den Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft durch ihre „eigene sinnliche Praxis“. Wer will es ihnen verdenken, daß sie nun nicht noch einmal ihr Leben der Allgemeinheit opfern wollen, auch wenn es nun ein besseres Allgemeines ist. Wer unterstellt, diese Menschen würden nur von Trabi nach Audi fliehen, verachtet sie. Welche Perspektive haben sie über das bundesdeutsche Sozialamt und Arbeitsamt hinaus? Es ist Zeit, für einen deutsch-deutschen Verhandlungstisch, hohe Zeit, sich zu überlegen, was man auf diesen Tisch packen kann. In Ost-Berlin hatte man die Gorbatschowsche Diagnose zu spät begriffen: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Die Bundesregierung hat noch ein paar Monate Zeit.
Klaus Hartung
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