: Modrow kommt - Krenz bleibt
■ Parteireformer Hans Modrow wurde ins Politbüro gewählt und zum Regierungschef vorgeschlagen / Egon Krenz einstimmig bestätigt / Demonstration der SED-Basis in Ost-Berlin fordert außerordentlichen Parteitag / Das Neue Forum steht unmittelbar vor der Anerkennung
Ost-Berlin (taz/dpa/ap) - Mit Egon Krenz an der Spitze des halbierten Politbüros und Hans Modrow als Exponent des Reformflügels und designiertem Regierungschef versucht sich die SED über die Krise zu retten. Auf einer spontanen Demonstration von SED-Mitgliedern vor dem ZK-Gebäude wurde der Vorschlag mit Jubel begrüßt, den bisherigen Dresdener SED-Chef Modrow als Vorsitzenden des Ministerrates vorzuschlagen. Zu der Demo hatte die SED-Grundorganisation eines Instituts der Akademie der Wissenschaften aufgerufen. Am Abend nahm Berlins Parteisekretär Schabowski vor der Presse Stellung zum ersten Tag des ZK-Plenums
Zu der ersten spontanen Demonstration der Berliner SED -Basis in der gegenwärtigen Krise hatten sich 50.000 Menschen vor dem ZK-Gebäude zusammengefunden. Sie forderten auf Transparenten und in Sprechchören: „SED vom Kopf auf die Füße stellen“, „Außerordentlicher Parteitag 1989“. Der Ostberliner SED-Bezirkschef Günter Schabowski stellte sich ebenso wie Parteichef Krenz der Menge. Schabowski erklärte: „Wir sind erst am Anfang des Prozesses der Erneuerung.“ Krenz bat darum, die Ergebnisse des Plenums abzuwarten. Die Demonstration gab die derzeitige Stimmung an der Parteibasis wieder: Wut über die alte Parteiführung und über das Hinterherhinken hinter den Ereignissen, aber auch Unsicherheit über den neuen Kurs. Zwei Konflikte wurden vor allem deutlich: Soll eine Parteikonferenz oder ein außerordentlicher Parteitag einberufen werden? Die Parteiführung strebt offenbar eine Parteikonferenz an, die keine Neuwahlen vornehmen würde. Die Mehrheit der Demonstranten bekundete, daß sie einen außerordentlichen Parteitag, der die Führung rundum erneuern könnte, vorziehen würde. Der zweite Konflikt geht um den Führungsanspruch der SED. Wem gehört die Macht, „dem Volk oder der Partei“? Einzelne Redner forderten die Streichung der Passage aus dem Artikel 1 der DDR-Verfassung, in dem die SED ihre Führungsrolle festgeschrieben hat. Den analytisch schärfsten Beitrag lieferte der Philosoph Michael Brie, Mitglied einer Gruppe von SED-Reformern an der Humboldt-Universität (siehe S.3). Er klagte die Parteiführung an, eine „Fraktionen gegen die Parteibasis“ gebildet zu haben, warf ihr Verantwortung für den „Wahlbetrug“ vom Mai und für die Repressionspolitik am 7./8.Oktober vor. Seine Feststellung, daß auch jetzt noch die Führung eine „Politik des Nachtrabs“ betreibe, wurde mit Pfiffen und Klatschen quittiert.
Bei dem 10. Plenum des Zentralkomitees wurde Egon Krenz als Parteichef einstimmig bestätigt, nachdem zu Beginn des Plenums erstmals in der Geschichte der Partei das Politbüro geschlossen zurückgetreten war. Das neue Politbüro besteht jetzt aus elf statt bisher 21 Vollmitgliedern. Hinzu kommen zwei „Bereichsleiter“ beim Politbüro, Klaus Höpcke und Gregor Schirmer, die nicht zu Mitgliedern gewählt werden konnten, weil sie bisher noch nicht einmal im ZK waren. Aus dem alten Honecker-Politbüro konnten sich neben Krenz sechs weitere halten: der bisherige Verteidigungsminister Keßler, die SED-Bezirkschefs Schabowski, Eberlein und Lorenz sowie Werner Jarowinski und Hans-Joachim Böhme. Neu gewählt wurden neben Modrow der bisherige Minister für Materialwirtschaft Rauchfuß, der Vorsitzende der staatlichen Plankommission Schürer sowie der Leiter der ZK-Abteilung Herger. Als Kandidaten wurden Johannes Chemnitzer, Inge Lange, Margarete Müller, Günter Sieber, Werner Walde und Hans-Joachim Willerding gewählt. Mit der Nichtberufung der von Krenz vorgeschlagenen Horst Dohlus, Günther Kleiber und Gerhard Müller wurde Vertretern der alten SED-Linie eine Absage erteilt. Neben Krenz wurden als ZK-Sekretäre Chemnitzer, Herger, Lange, Lorenz, Rauchfuß, Schabowski und Sieber gewählt. Laut 'adn‘ wurde über jeden Vorschlag einzeln abgestimmt. Das schlechteste Ergebnis erzielte Böhme mit 66 Gegenstimmen bei 157 Stimmberechtigten. Modrow erhielt zwei Gegenstimmen.
Auf einer Pressekonferenz am gestrigen Abend erklärte Schabowski zur Politik der SED, sie sei zur Zusammenarbeit mit jenen neu entstandenen „Organisation bereit, die sich als impulsgebend erwiesen haben“, und schloß auch einen „runden Tisch“ nicht aus. Die Zulassung des „Neuen Forum“ stellte er für die nächsten Tage in Aussicht.
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Krenz vermied in seiner Rede eine direkte Stellungnahme zu dem von seiner Partei erhobenen Führungsanspruch, über den in der DDR eine heftige öffentliche Kontroverse entbrannt ist. Er sagte, die Partei habe sich durch „folgenschwere Verletzungen“ des SED-Statuts ihrer „stärksten Seiten, der engsten Verbindungen mit dem Volk, der Wissenschaftlichkeit der Politik, der innerparteilichen Demokratie, der Konstruktivität im Meinungsstreit und der Kollektivität bei der Vorbereitung von Entscheidungen“ begeben. Gleichzeitig dankte er den ausgeschiedenen Politbüromitgliedern Hermann Axen, Kurt Hager, Werner Krolikowski, Erich Mielke, Erich Mückenberger, Alfred Neumann, Horst Sindermann, Willi Stoph und Harry Tisch. Als „Aktivisten der ersten Stunde“ hätten sie in der DDR mit dem Aufbau einer neuen Gesellschaft begonnen.
Trotz der Krise der Partei und dem wachsenden Unmut in der Bevölkerung muß auch das neugewählte Politbüro als Kompromiß zwischen Reformern und Konservativen gelten. Ob Modrow als Regierungschef mehr darstellen wird als ein Aushängeschild, ist wesentlich abhängig von der angekündigten Reform des politischen Systems.
Das Präsidium der Ostberliner Volkskammer will adn zufolge möglichst bald eine Sitzung des DDR-Parlaments einberufen. Die Forderung nach Einberufung einer
Volkskammer-Sitzung war in den vergangenen Tagen immer wieder erhoben worden. Nach dem Verfassungs- und Rechtsausschuß des DDR-Parlaments verlangte am Mittwoch auch der Gesundheitsausschuß eine sofortige Sitzung.
Das oppositionelle „Neue Forum“ soll laut adn offiziell anerkannt werden. „Dort, wo die Bereitschaft dokumentiert wurde, daß die Tätigkeit des 'Neuen Forums‘ in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Zielen der Verfassung der DDR stattfindet, sei die Anmeldung bestätigt worden“, heißt es.
eis
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