Sich schämen müssen in einem reichen Land

■ Paritätischer Wohlfahrtsverband legt Armutsbericht vor / Lebenslagen der Armen in Bremen noch dramatischer als im Bundesdurchschnitt

Um endlich die überfällige öffentliche Debatte anzuzetteln und um gegen das hartnäckige Leugnen des Themas Armut in der Bundesrepublik anzugehen legte gestern der 'Paritätische‘ (Wohlfahrtsverband, DPWV) zeitgleich in Bonn und Bremen seinen 80seitigen „Armutsbericht“ vor. Titel: “...wessen wir uns schämen müssen in einem reichen Land“.

Armut - das heißt viel mehr als wenig Geld. „Armut heißt: kalte Mahlzeiten am Monatsende, abgelaufene Ware im Supermarkt kaufen müssen, Kerzenlicht, Kleiderkammern, Gebrauchtmöbel-Zentralen, ein Loch als Wohnung - man ist der letzte Dreck“, faßte Rainer Sobota von der Arbeitslosenselbsthilfe zusammen.

Schämen müssen sich Klaus Wedemeier und Claus Grobecker, meint DPWV-Geschäftsführer Albrecht Lampe, weil auch sie in Bonn zusammen mit ihren sämtlichen Länderchef- und Finanzminister-Kollegen einstimmig für die „skandalöse Neuregelung“ der Sozialhilfe gestimmt haben, gegen das sensationell

ebenso einstimmige Votum aller Sozialminister, die eine deutliche Erhöhung um 12,6% haben wollten. Herausgekommen ist schließlich die lächerliche Erhöhung der Sozialhilfe um 19 Mark pro Jahr, und das noch auf drei Jahre gestreckt.

„Arm“ ist jede, die Sozialhilfe bezieht und damit oft 30% unter dem Existenzminimum liegt. Dazu kommen noch diejenigen, meist Ältere oder Frauen, die aus Unkenntnis oder Angst nicht einmal diese Leistungen beantragen: nach dem Bericht des Bremer Sozialsenators rund 50%! aller Anspruchsberechtigten. Und in Bremen ist alles noch schlimmer. Jede 20.BundesbürgerIn lebt vom Sozi, aber jede 12. BremerIn.

Armut in Bremen heißt: Immer mehr Kinder können nicht mit ins Schullandheim fahren. Immer mehr haben am Monatsende oder gar durchgehend buchstäblich nichts zu essen und kommen in die 'Suppenküchen‘. Kleiderkammern, Möbeltausch und Schuldnerberatung verzeichnen drastisch steigende Nachfrage. Behinderte Menschen in Bremer und

Bremerhavener Werkstätten werden mit monatlich 120 bis 160 Mark abgespeist.

Harte Kritik setzte es gestern

auch an der Beratungs- und Bewilligungspraxis der Bremer Sozialämter; „völlig unnötigerweise in hohem Maße kritikwür

dig, weil bestehende Gesetze nicht eingehalten werden“ (Lampe), weil Ermessensspielräume nicht offensiv zugunsten

der AntragstellerInnen genutzt werden, weil sich gar SachbearbeiterInnen für eine Überziehung der durchschnittlichen Bewilligungssummen rechtfertigen müssen.

Für Bremen fordert der Paritätische, Dachverband für 160 Mitgliedsvereine: Die Regelsätze für Sozialhilfe gehören sofort mindestens um die geplanten 12,6% erhöht; und die den Bedürftigen vom Sozialamt rechtswidrig vorenthaltene und erst gerichtlich erstrittene Nachzahlung aus dem Jahre 1986 muß ohne Antrag, also nicht nur für die Informierten und Wissenden, nachgezahlt werden. Die Bürgerschaft soll einen jährlichen Armutsbericht für Bremen in Auftrag geben und Konsequenzen daraus ziehen, außerdem einen interfraktionellen Ausschuß 'Armut in Bremen‘ bilden. So praktisch wie schnell und Bremen-intern könnte ein Anfang gemacht werden mit der deutlichen Erhöhung des Sozi -Weihnachtsgeldes und der Bekleidungspauschale. Susanne Paa

Den informativen Berichts gibt es beim DPWV, T. 321532.