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Sigmund Freuds Sterben und Leben

■ Der Psychohistoriker Peter Gay legt eine umfassende Freud-Biographie vor

Im Dezember 1929 schreibt Sigmund Freud an Max Eitington: „Der Verlust der Mutter muß etwas ganz Merkwürdiges (...) sein (...). Ich habe selbst noch meine Mutter, und sie sperrt mir den Weg zur ersehnten Ruhe, zum ewigen Nichts; ich könnte es mir gewissermaßen nicht verzeihen, daß (!) ich vor ihr sterben sollte.“ Der „unbestrittene Liebling der Mutter“, der Sigmund nach seiner vermutlich zutreffenden Annahme war, sucht sich mit dem Understatement des wissenschaftlichen Beobachters, der existentielle „Merkwürdigkeiten“ registriert, gegen einen Verlust zu wappnen, der für ihn zugleich die Befreiung wäre: die einst lebengebende Mutter als Todeshindernis.

Zehn Jahre später hingegen bestehen solche Hindernisse nicht mehr: Am 21.September 1939 fordert Freud, an einem unheilbaren Gaumenkrebs dahinsterbend, seinen Arzt Max Schur auf, ein Versprechen einzulösen, das er über ein Jahrzehnt zuvor, bei der Aufnahme seiner Behandlung durch Schur, erbeten hatte: ihm zu einem freien Tode zu verhelfen, wenn Siechtum und Schmerzen ihm das selber unmöglich machen sollten. Nach der Zustimmung Anna Freuds, die den Vater seit seiner großen Krebsoperation im Jahr 1923 und über zwanzig weiteren hingebungsvoll gepflegt hatte, kommt der befreundete Schur der Aufforderung nach: Am 23.September 1939 um drei Uhr morgens stirbt der Emigrant Freud in London an einer tödlichen Dosis Morphin.

Wenn man die Geschichte dieses Sterbehilfepaktes heute genauer nachvollziehen kann, als das bisher möglich war, dann ist das eines der Verdienste der monumentalen Freud -Biographie, die Peter Gay zum 50.Todestag Freuds vorgelegt hat. Gay hat erstmals etliche unveröffentlichte Quellen genutzt und ist dabei auf Abweichungen von der bisher üblichen Version gestoßen. Nicht nur war die Zahl und die Dosis der Injektionen größer, als Schur das aus rechtlicher Vorsicht öffentlich gesagt hat - Freud hat eben vor allem seine schließliche Euthanasie an die Einwilligung Annas geknüpft.

Freilich ist damit, anders als Gay es in seinem sonst ebenso scharfsichtigen wie einfühlsamen Porträt der Beziehung zwischen Vater und Tochter deutet, keineswegs bloß die Rolle der darob von schweren Schuldgefühlen gepeinigten Anna neben der Schurs umakzentuiert; auch die von Freud selber: Der sieche König Ödipus, der Vater und Mutter überlebt hat, legt sein Sterben wie vorher schon sein niedergehendes Leben in die Hände derjenigen, die er seine „Antigone“ nannte.

Im übrigen findet der Leser Gays bedeutsame Korrekturen erstaunlicherweise nicht im Haupttext, sondern im umfänglichen Apparat dieser Biographie: Generell ist er gut beraten, wenn er Max Webers bekannte Empfehlung, das Wichtigste finde sich wie üblich in den Anmerkungen, wörtlich nimmt.

Im Apparat zeigt der Biograph überdies auch deutlicher seine emotionale Beteiligung und sein polemisches Engagement. Und in dem Maße, wie seine Subjektivität spürbarer wird, gewinnt seine Biographie auch an Farbigkeit, Spannung und Intensität.

Gleichermaßen ist diese Biographie eine eingehende Werkgeschichte und -interpretation. Gay deutet Freuds riesige Lebensleistung stets auch als autobiographisches Zeugnis. Indessen gerät das nie zur Werkrelativierung; Lebensgeschichte nicht zur Fortführung der Polemik mit den fatalen „anderen Mitteln“. Das eigentliche Drama, das Gay rekonstruiert, ist gerade das eines überaus gefährdeten Mannes, dem es gelingt, seine persönlichen, auch seine pathologischen Impulse, seine taktischen Absichten, sein hochspekulatives Temperament so zu lenken, daß er Wirklichkeit trifft, nicht überfliegt oder entstellt: ein eindrucksvoller Kampf um Selbstdisziplin; ebensosehr Ausdruck einer besessenen Wahrheitssucht, nicht bloß Wahrheitssuche, für die Erkenntnis Elementarbedürfnis ist. Gays Freud kann das Forschen und die permanente Revision seiner Ergebnisse einfach nicht lassen. Und noch weniger kann er das einmal Erkannte für sich behalten. Die politischen, die gesellschaftlichen und die religiösen Mächte, die Illusionen und die Ideologien können dabei selbstverständlich nicht ungeschoren bleiben.

Solche Wissenschaft ist nach Freuds Selbstverständnis notwendigerweise verletzend. Aus der Sicht des Arztes, des Erziehers Freud ist sie aber ebenso heilsam. Denn indem sie undurchschaute Abhängigkeiten analysiert, buchstäblich auflöst, dient sie der Autonomie. Die Position der Psychoanalyse ist dabei kulturell dieselbe, die der späte Freud dem Ich zuschreibt: Zwischen Es, Über-Ich und Welt; zwischen Trieb, verinnerlichter Macht und dem Diktat der Realität versucht sie den Handlungsraum des bewußten Ichs zu erweitern. Freud, hier wieder etwas weniger revolutionär, hat seinem berühtem Satz „Wo Es war, soll Ich werden“ zwar nicht den anderen hinzugefügt „Wo Über-Ich war, soll Ich geschweige denn 'Wir‘ - werden“. Er liegt aber gleichermaßen in der Logik der Sache: Psychoanalyse - das ist eine methodische Skepsis und Respektlosigkeit, die gegen die kulturellen und seelischen Regressionen das Erwachsenwerden, die Befreiung von möglicherweise angenehmen Illusionen, erleichternden Abhängigkeiten, liebgewordenen Determinationen fördern soll.

Ihr menschlich schönstes und reifstes Resultat ist auch für den Biographen die illusionslose Autonomie im Umgang mit dem Tod. Wahrheit und Autonomie hängen hier unmittelbar zusammen. Und das Verhältnis zur Wahrheit ist in letzter Instanz das zum Tod. So kann Freud, der seine eigene Todesdisposition durch sein Arbeitsleben diszipliniert, am Ende einen freien Tod in Würde, ohne Selbstmitleid und Lüge sterben.

Als sein damaliger Arzt Felix Deutsch ihn 1923 über seinen Krebs hinwegzutäuschen versucht hatte, war Freud daran ebenso die Verfügungsanmaßung wie der Betrug zuwider gewesen. In diesem Sinn schließt er am 1.August 1939 mit dem klaren Bewußtsein der Endgültigkeit seine ärztliche Praxis. Als sein geliebter Chow-Chow zum ersten Mal vor ihm zurückscheut, weil er den Gestank der schwärenden Wunde nicht mehr ertragen kann - das konnte nur noch Antigone-Anna -, weiß Freud, was das bedeutet, und sieht ihn nach Schurs Beschreibung „mit tiefen, tragisch wissenden Blicken an“. Als der Kriegsbeginn gemeldet wird, kommentiert Freud: „Mein letzter Krieg.“ Seine letzte Lektüre gilt Balzacs Schrumpfungsgeschichte Le peau de chagrin. Und dann gibt ihm ein „treuer und liebevoller Arzt“ und eine „nicht minder treue und noch liebevollere“, wiewohl widerstrebende Tochter die Hilfe, die er braucht und wünscht. Gay nennt die große Tradition, in der dieser Tod steht, bei ihrem angemessenen Namen: „Tod eines Stoikers“.

Ludger Lütkehaus

Peter Gay: Freud. Eine Biographie für unsere Zeit. S. -Fischer-Verlag, Frankfurt. 952 Seiten mit 32 Abbildungen, 68 DM

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