: Das Nach-Mittag-Problem der DDR: Lahme Elefanten
Der neue Wirtschaftssekretär im Politbüro, Rauchfuß, wurde von Vorgänger Mittag geprägt und muß dennoch dessen Lieblingen zu Leibe rücken: den Kombinaten ■ Von Steffen Ullmann
Das Rätselraten um die neuen Männer im SED-Politbüro hat ein erstes Ende gefunden. Die Namen stehen fest. Vielleicht eine der wenigen Überraschungen dabei: Wolfgang Rauchfuß, der nun das schwere Erbe Günter Mittags als verantwortlicher Wirtschaftssekretär übernimmt. Der Nobody im „Rat der Götter“ weiß selbst nur zu gut, welch schwierigen Aufgaben er sich stellen muß, hat er doch als ehemaliger Minister für Materialwirtschaft intimen Einblick in die Situation der DDR -Wirtschaft gehabt. Man kann ihm nur Glück wünschen.
Einer der wichtigsten Knackpunkte für den Erfolg seiner Arbeit wird sein, inwieweit es ihm gelingt, die verkrusteten wirtschaftlichen Strukturen des Landes wieder aufzubrechen. Unter der Ägide Mittags wurde der gesamte Wirtschaftsapparat zentralisiert und über 3.000 Betriebe in mehr als 200 Kombinate zusammengepreßt. Neben den großen Industriekombinaten entstanden sogenannte bezirksgeleitete Kombinate, die vor allem unmittelbare Versorgungsaufgaben zu erfüllen haben.
Jahrelang zählte diese Mittagsche Wirtschaftsreform zu den „heiligen Kühen“ in der DDR. Sie galten als Beweis für das richtige Reagieren der SED auf die sich verändernden wirtschaftlichen Bedingungen in der Welt. Und jeder leise Zweifel an dieser Wunderwelt ohne Wettbewerb zwischen Konkurrenten und ohne reale Preise wurden mit Vehemenz vom Tisch gefegt. Die geschönten Wachstumszahlen taten ein übriges.
Nach der „Wende“ sprechen nun alle auch von einer tiefen ökonomischen Krise, in die das Land geraten sei. Und die einstmals nicht hoch genug gelobten sozialistischen Multis geraten zunehmend in die Kritik.
Ungereimtheiten werden offensichtlich: ihr Verlust an Flexibilität, die Innovationsträgheit der Kolosse, die Behinderung der so notwendigen Arbeitsteilung. So wie die Volkswirtschaft insgesamt auf einen verheerenden Autarkiekurs gegenüber der Weltwirtschaft getrimmt worden ist, haben sich auch die Kombinate so weit wie möglich von Zulieferungen und Kooperationsleistungen im Inland abgekoppelt, um damit Unwägbarkeiten für die eigene Leistungsentwicklung einzuschränken. So entstanden auf der „Wirtschaftsinsel DDR“ viele kleine und größere Produktionsinseln, die allesamt nach Autarkie strebten.
Der einzige Produzent von Gläsern für den Hausgebrauch, das Kombinat „Lausitzer Glas“, stellt auch einen großen Teil seiner benötigten Maschinen her, weil er sie nirgendwo im Lande kaufen kann und er über keine Devisen für den Import verfügt. Er unterhält auch eine große Bauabteilung, um ganze Produktionsstätten selbst modernisieren zu können. Und er nennt einen Verpackungsmittelbetrieb sein eigen, würde auch gern noch eine Druckerei in sein Kombinat eingliedern, damit er dann noch die Kartons selbst bedrucken kann - das perfekte Inseldasein! Niemand fragte mehr, ob sich das überhaupt noch rentiert, weil anders in der DDR kontinuierliche Produktion nicht mehr zu sichern ist.
Dafür besitzt der Glasproduzent das Monopol auf dem abgeschotteten Binnenmarkt. Die Konsumenten sind ihm damit völlig ausgeliefert. Produziert er Gläser, die eigentlich keiner haben will, weil sie nicht dem aktuellen Geschmack treffen, wird er dafür keineswegs bestraft, denn dem Käufer fehlen die Alternativen. Seine Innovationsträgheit wird geradezu herausgefordert.
Erst beim Export wird der Monopolist unanständig mit der harten Konkurrenz auf dem Weltmarkt konfrontiert. Und dort gerät er dann fast automatisch in das Dilemma, den größten Teil seines Sortiments unter Wert verkaufen zu müssen, weil er aufgrund seines Inseldaseins zu teuer und nicht dem internationalen Standard gemäß produziert.
Innovation per Befehl
Für Mittag waren die Kombinate das Rückgrat seiner Kommandowirtschaft. Als er merkte, daß damit wirklicher Effizienzzuwachs nur schwer zugewinnen ist, versuchte er es mit immer neuen zentralistischen Auflagen, die lahmenden Elefanten wieder auf Trab zu bringen.
Eine seiner wichtigsten Forderungen in den letzten Jahren hieß darum: Erhöhung der Innovationsrate. Fast über Nacht verlangte er den Kombinaten 1983 eine jährliche Erneuerungsrate von 30 bis 40 Prozent ab. Und das bedeutete, daß jedes Unternehmen in zwei bis drei Jahren fast sein ganzes Produktionssortiment zu erneuern hatte. Vorher lag diese Rate durchschnittlich bei zweieinhalb Prozent.
Und selbst führende internationale Unternehmen in der Welt weisen eine Erneuerungsrate von höchstens zehn bis zwölf Prozent im Jahr aus. Mittag wollte 40. Und er bekam sie von immer mehr Kombinaten präsentiert.
Doch was auf dem Papier stand, erwies sich beim genaueren Hinsehen eher als billiger Taschenspielertrick. Viele Unternehmen flüchteten sich in Scheininnovationen, nahmen kleine Produktverbesserungen vor oder begnügten sich mit unaufwendigen Designveränderungen. Andere führten grundlegende Erzeugniserneuerungen nur scheibchenweise ein und konnten damit Jahr für Jahr ein „neues“ Erzeugnis abrechnen: Das bisher produzierte Sektglas erhielt nun einen Goldrand. Der buntbemalte Trinkbecher im nächsten Jahr ein Abziehbild, um im folgenden dann wieder bemalt zu werden. Der Becher aber blieb immer der gleiche.
Was als Stimuli für eine schnelle Erneuerung der Produktion gedacht war und zu einer höheren Weltmarktfähigkeit von DDR -Produkten führen sollte, erwies sich alsbald als Hemmschuh für wirkliche Innovationen. Und konnte man auch auf dem Binnenmarkt für diese „neuen“ Produkte höhere Preise erzielen, erlösten die DDR-weiten Angebotsmonopolisten auf dem Weltmarkt für solche Erzeugnisse zumeist weniger als mit den alten Produkten.
Auf dem Papier standen hohe Wachstumsraten bei der Produktion und bei der Erneuerung, genau wie sie angeordnet wurden - Mittags Wunderwelt, die selbst für Fachleute immer undurchschaubarer wurde. Der neue Wirtschaftslenker im Amte wird viel Energie aufbringen müssen, um hier einigermaßen Ordnung zu schaffen. Den fest verzurrten Wirtschaftsapparat zu entflechten, dafür wird Wolfgang Rauchfuß Zeit brauchen, über die er nicht verfügt.
Denn da harren noch andere Dinge auf Veränderung: Die verheerenden Disproportionen in der Wirtschaft gilt es zu beseitigen, die brachliegende Zulieferindustrie muß an Kraft gewinnen, die Subventionspolitik verändert werden. Es geht künftig um eine ökologisch vertretbare Industrie, über sinnvollen ausländischen Kapitalzufluß (Joint venture) muß nachgedacht werden. All das erfordert eine Neuordnung der gesamten Wirtschaftsstruktur, vor allem aber eine Abschaffung der Mittagschen Kommandowirtschaft.
Heute klagen die Wirtschaftsfachleute mehr Eigenständigkeit ein und fordern von der SED die längere Leine, was wohl nichts anderes heißt, als daß mit den ökonomischen Veränderungen auch demokratische Reformen einhergehen müssen. Vom Begreifen dieser Dialektik wird der Erfolg des neuen Wirtschaftsmannes im SED-Politbüro abhängen. Es fragt sich nur, ob sich der von Mittag geprägte Rauchfuß von den alten Denkstrukturen lösen kann?
Steffen Ullmann war bis Januar 1989 Wirtschaftsredakteur bei der DDR-Zeitschrift 'Neue Berliner Illustrierte‘ und lebt heute in West-Berlin. Er wird für die taz in lockerer Folge die Probleme und Chancen der DDR-Wirtschaft beleuchten.
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