Lager Marienfelde: Versuche, das Chaos zu verwalten

Im Übersiedlerlager Marienfelde herrschte gestern der Ausnahmezustand / Vermutlich mehrere tausend DDR-Bürger sind seit Freitag morgen nach Berlin übergesiedelt / Kapazitäten in Marienfelde völlig erschöpft / Verteilung der Aussiedler auf Notquartiere in der ganzen Stadt  ■  Von Kordula Doerfler

„Zuerst holen Sie sich mal 'ne Nummer“ - mit diesen Worten wird jeder neuankommende DDR-Übersiedler im „Auffanglager“ Marienfelde begrüßt. In der Eingangshalle stapeln sich Koffer und Taschen, auf vielen sitzen heulende und völlig überdrehte Kinder. Die Zustände sind chaotisch, trotzdem versucht man, mit gewohnter deutscher Gründlichkeit den Amtsweg einzuhalten.

Während gestern Nacht an den Berliner Grenzübergängen ganz unbürokratisch in jede Richtung gereist werden konnte - und zurück -, kann das Leben als Bundesbürger erst mit einem Formular beginnen, das man als erstes bei der Neuaufnahme erhält.

Normalerweise gibt es in Marienfelde nur eine Aufnahemstelle, seit gestern morgen sind es drei, und vor jeder stehen mittags gegen 12 Uhr mindestens 200 Menschen, frierend, übernächtigt und aufgeregt. Wieviele seit den frühen Morgenstunden gekommen sind, als sich in Berlin herumgesprochen hatte, daß die Grenzen offen sind, weiß niemand. „Hunderte werden es sein, wenn nicht schon mehrere Tausend“ schätzt ein Sozialarbeiter an der Eingangsschleuse, die jeder Neuankömmling passieren muß.

„Fragen Sie mich bitte nichts, ich fange sonst an zu schreien“, wehrt eine Kollegin mich ab. „Sie sehen ja, was hier los ist!“ Beide sind permanent von Knäueln von Menschen umringt, alle fragen das gleiche, immer wieder von vorne. Die Lagerleitung hält seit neun Uhr Krisensitzung mit offenem Ende.

Aufgenommen werden kann hier sowieso keiner mehr, „wir sind voll bis unters Dach“. Wer Verwandte in West-Berlin hat, soll sich an die wenden, ansonsten werden alle nach der offiziellen Registrierung sofort weiterverteilt auf Notunterkünfte in der ganzen Stadt. Gerüchte kursieren, daß auch schon die riesigen Messehallen unter dem Funkturm hoffnungslos überfüllt sein sollen. Die BVG hat Sonderbusse eingesetzt, in die die Neuankömmlinge, schon sortiert nach dem jeweiligen Bestimmungsort, verfrachtet werden.

„Der Kirchentag war schlimmer“, meint lapidar ein BVG -Busfahrer, der seit den frühen Morgenstunden im Einsatz ist.

Wie lange die einzelnen in den Notunterkünften bleiben müssen, ist überhaupt nicht abzusehen. „80 Prozent gehen wieder zurück. Wenn die erst mal vier Wochen in einer Turnhalle oder einem Container verbracht haben, werden sie sich sehnen nach ihren gemütlichen Wohnungen in Ost-Berlin“ glaubt ein Mitarbeiter des Lagers. Von den Übersiedlern ist allerdings nur Gegenteiliges zu hören. „DDR - nie wieder!“, so die einhellige Meinung der frisch Angekommenen wie auch derer, die schon länger im Westen sind und jetzt einen Wust von bürokratischen Formalitäten hinter sich zu bringen haben, der mehrere Tage in Anspruch nimmt.

Wer sein Anmeldeformular erhalten und ausgefüllt hat, muß als nächstes zu den Alliierten, die die Personalien überprüfen und eine weitere Befragung vornehmen. Dann wieder langes Schlangestehen beim Empfang des Begrüßungsgeldes und zweier Freifahrscheine für die BVG. Die erste Vorstellung bei den eigens eingerichteten Außenstellen der Arbeitsämter erfolgt in der Regel erst nach mehreren Tagen.

„Für uns gab's keine Zukunft mehr, weder beruflich noch sonst irgendwo“, so die fast stereotype Einschätzung der Lage in der DDR. Die meisten Neuankömmlinge sind jung, um die 30, viele haben Kinder dabei. „Ja, wir woll'n in Berlin bleiben, aber nicht unseren Verwandten auf die Nerven fallen“, verkündet ein 24jähriger Agrotechniker aus Berlin, der gestern morgen mit Frau und zwei kleinen Kindern am Übergang Sonnenalle in den Westen kam. Eine junge Krankenschwester ist enttäuscht, denn sie durfte gestern ganz legal ausreisen, mit offiziell genehmigtem Ausreiseantrag.

Aber alle zeigen sich noch voll Optimismus in ihren Hoffnungen für den Westen.

In einem Punkt stimmen fast alle überein: Die DDR habe abgewirtschaftet, über kurz oder lang werde sie zusammenbrechen. Nur vereinzelt sind nachdenkliche Stimmen zu hören, ist leichte Unsicherheit herauszuspüren, ob die Entscheidung zu gehen, vielleicht doch voreilig war. Die Frage, wie es denn nun weitergehen wird in und mit der DDR, beschäftigt trotz der drängenden Existenzfragen die meisten. Eine unter vielen Prognosen: „Wahrscheinlich wird sie so eine Art elftes Bundesland.“