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CSSR-Führung unter DDR-Schock

Jaroslav Sabata ist ehemaliger Sprecher der Charta 77 und Mitbegründer der Gruppe „Bewegung für bürgerliche Freiheiten“ / Alte Ressentiments gegenüber den Deutschen  ■ I N T E R V I E W

taz:Herr Sabata, die tschechoslowakische Regierung hat erst sehr spät auf die Öffnung der Mauer in Ost-Berlin reagiert. In ihrer Stellungnahme heißt es, die Regierung begrüße prinzipiell die Entscheidung, die bisherigen Vorschriften im Reiseverkehr zu lockern. Ohne Zweifel werde damit auch den unhaltbaren Zuständen rund um die Prager Botschaft der BRD vorgebeugt. Wie erklären Sie sich diese zurückhaltenden Töne?

Jaroslaw Sabata:Die Führung leidet unter einem Schock, den sie noch nicht verarbeitet hat. In der 'Rude Pravo‘ wird nur über die ZK-Sitzung der SED berichtet, aber darin tauchen Stellungnahmen auf, die für unser Milieu schon ketzerisch sind, ohne weiteren Kommentar. Sicherlich wird die Partei jetzt darüber diskutieren. Denn in den letzten Tagen herrscht dort eine ziemliche Nervosität, und mit der Entwicklung in der DDR wird es immer dramatischer. Aber die Partei hat zu den ganzen Vorgängen noch kein Wort gesagt.

Glauben Sie, die CSSR hat gegenüber der DDR darauf gedrungen, endlich eine Lösung für die Ausreise nach Prag zu finden und dabei nicht bedacht, daß die Wirkung auch für sie unvorhersehbare Folgen haben könnte?

Druck war da wohl nicht im Spiel. Die DDR-Bürger aus der CSSR ziehen zu lassen, war mit der Sowjetunion von Anfang an abgesprochen, das wissen wir.

Welche Konsequenzen wird die Öffnung der DDR auf die KPTsch haben ?

Eine sofortige Wirkung wird sie nicht ausüben. Seit einigen Tagen wußte sie, daß da eine Krise in der Luft hängt. Die Honecker-Position war auch nicht die ihrige. Gesprochen wird bei uns seit längerem von Perestroika und Demokratie, darin liegt eine neue Qualität. Verbal ist die Regierung vorbereitet, sich dem Lande als reformfähig zu präsentieren. Dieser Akzent wird zunehmend betont, aber gleichzeitig wird eine Politik der eisernen Hand mit Glacehandschuhen gefahren. In den letzten Wochen ist die Stimmung bei uns spürbar radikaler geworden. Natürlich bleibt die Frage, wann auch bei uns Hunderttausende durch die Straßen ziehen. Insgesamt ist die Situation offener geworden. Zweifelsohne wirkt die DDR als beschleunigende Kraft.

Muß die Bevölkerung der CSSR bei den Vorgängen in beiden deutschen Staaten nicht auch ambivalente Gefühle entwickeln? Einerseits brechen die bürokratischen Strukturen eines bevormundenden Systems auf, andererseits nehmen die Emotionen und das Gerede über ein wiedervereinigtes Deutschland ständig zu. Überwiegt da in der Tschechoslowakei nicht eher die Angst vor den Deutschen?

Unbedingt. Die Stimmung ist nicht eindeutig. Die Angst ist da. Heute morgen fragte ich eine Bekannte: „Was sagst du zu den Deutschen?“ Sie schaute mich an und sagte: „Ich bin vor dem Krieg geboren worden und für mich sind diese Leute nicht die allersympathischsten.“

Bei der Beurteilung der DDR-Vorgänge durch die Älteren werden die Ressentiments gegenüber den Deutschen eine ganz entscheidende Rolle spielen. Nationale Vorurteile bestehen auch gegenüber den Polen und Ungarn. Und die CSSR-Regierung arbeitet momentan ganz bewußt mit dem erneuten Schüren solcher nationalen Ressentiments. Aber dennoch, wenn die Leute spüren, daß die Mauer fällt, dann spüren sie auch, damit geht eine ganze Epoche zu Ende.

Welche Vorstellungen verknüpfen Sie längerfristig mit der Deutschen Frage?

Ich bin für eine Konföderation, aber nicht im Sinne einer Wiedervereinigung in den Grenzen von 1937. Ich kann mir die DDR als eine demokratisch-sozialistische Gesellschaft vorstellen, die mit der BRD über eine Währung verbunden sein könnte. Für die Einheit Europas wäre das ein riesiger Schritt voran.

Das Gespräch führte Klaus-Helge Donath

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