: „Nicole soll zu Gerd kommen“
Grenzenlose Begegnungen in einer historischen Nacht ■ E R E I G N I S B E R L I N
Am Grenzübergang Invalidenstraße steht ein Pärchen von drüben. Er an jeder Hand einen Koffer, sie mit Kinderwagen. Irritiert nehmen sie wahr, daß Tausende von Kollegen an ihnen vorbeiziehen, Ost-Berlin im Rücken; alle ohne Gepäck. Die wollen nach der Tour übern Kudamm gleich wieder zurück. Am nächsten Morgen wartet die Schicht.
Die Grenzer haben den Überblick verloren. Mompers Appell an die Disziplin der Massen wird zwar bejubelt, aber ignoriert. Kein Auto kommt mehr raus, niemand mehr rein. Resigniert regeln Westberliner Polizisten den Verkehr auf der Ostseite, Vopos schaffen Platz im Westen.
Freunde verlieren sich, Ehepaare driften auseinander. „Nicole soll zu Gerd kommen. Bitte kommen Sie zum LauKW.“ Wahrscheinlich ist damit der Polizeilautsprecherwagen gemeint. „Frau Gimbrecht wartet auf ihren Mann. Ebenfalls am LauKW.“
Giftiger Gestank legt sich über die Menge. Wer die Trabis nicht sieht, kann sie riechen. Die ersten verfransen sich im Westberliner Teil der Stadt. An der Ampel wird das Fenster runtergekurbelt: „Eh, haste mal 'nen Stadtplan für mich?“ Gefragt ist der kürzeste Weg zum Kurfürstendamm.
2 Uhr früh: Tausende von „Dedies“ bevölkern die Berliner Luxusmeile, strömen in die Kneipen. Hier endet die erste Euphorie. Sie haben kein Westgeld, und Freibier gibt's auch nicht. So weit reicht die Begeisterung der Kneipenwirte dann doch nicht.
Vor der „Hafenbar“ auf Ostberliner Seite stehen Westberliner frustriert Schlange, sie haben sich ohne Ausweis durch die Grenze geschoben und warten jetzt darauf, „plaziert“ zu werden. Vergeblich, der Laden ist dicht. Bevor sie wieder abziehen, drohen sie vor der „Disco für alle“: „Wir kommen jetzt öfter.“
Die ersten wollen wieder zurück, halten am Kudamm ein Taxi aus Ost-Berlin auf. „Kannste uns mit zurücknehmen?“ - „Nee, ich muß noch ein paar Touren hier machen.“ Am Übergang drängen sie darauf, einen Stempel in den Ausweis gedrückt zu kriegen. „Sonst gloobt uns det drüben doch keener.“
Die Witwe Friede Springer feiert gerade die Verleihung des Goldenen Lenkrads an der Berliner Mauer, als die Nachricht von der Öffnung kommt. „Wenn mein Mann das noch erlebt hätte...“
Am frühen Freitag morgen streift die erste Ostberliner Schulklasse durch Kreuzberg. Enttäuschung auf den Gesichtern: „Sieht ja aus wie bei uns.“
bg
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen