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Hundert Mark zum ersten!

Berlin (taz) - Die ersten, stöhnt der Pförtner aus seinem Glashaus heraus, kamen schon früh um sechs. Jetzt ist es 10 Uhr 30, und wie viele den Devisenausschank im Bezirksamt Kreuzberg bis jetzt durchlaufen haben, kann keiner genau sagen. „Einige tausend bestimmt“, sagt Herr Borchert, der für die nächsten Tage vom Stadtrad für Jugend und Kultur zum Austeiler von Einkaufswährung geworden ist. Daß er und seine Mitarbeiter trotzdem alles im Griff haben, beweist er gleich mit Zahlen: „Zwei zusätzliche Büros mit jetzt 26 Mitarbeitern stehen bereit, dazu ein Arzt und eine Krankenschwester (falls der amtliche Kurs hier von 0:100 jemanden von den Socken hauen sollte); dazu ein Wickelzimmer für die Kleinsten, die alle mitgebracht werden, weil ja pro Kopf ausgezahlt wird, zwei Thermotoren aus dem Seniorenheim zum Warmhalten des Kaffees, und für den großen Hunger wurde telefonisch schon ein Kantinenwagen der Berliner Polizei geordert.

Für die DDR-Touristen selber ist vordergründig nur wichtig, ohne Schlangestehen ans harte Geld zu kommen, weil sie viel vorhaben an ihrem ersten Tag oder schlicht wieder zurückmüssen an ihre Arbeit im Ostteil der Stadt. So standen sie vor allem in den frühen Morgenstunden in Malerklamotten und Schlosseranzügen vor dem Rathaus, weil die Meldung die Runde machte, daß ab 8 Uhr das Reisen nur noch mit Visa möglich wäre und dann alles wieder bürokratisch verschleppt würde. „Ich wunderte mich schon, daß die Handwerker heute so zeitig kommen“, erzählte ein Helfer, bis die verschiedenen Dialekte ihm den Durchblick verschafften.

Damit keiner der DDR-Touristen sein Geld zweimal abholt, hat man sich was ganz Schlaues einfallen lassen: Jeder bekommt auf die letzte Seite seines Personalausweises ein gut sichtbares, mit rotem Kugelschreiber gemaltes Kreuz. Ein Kreuz 100 D-Mark. Das gleiche System auf der Sparkasse, die sich das Geldverteilen mit den Rathäusern teilt. Pro von mir gestoppten 10 Minuten werden an vier Schaltern jeweils 23 Repräsentanten des wieder geöffneten Arbeiter- und Bauernparadieses abgefertigt. Das sind 138 pro Schalter, macht 12.300 D-Mark pro Stunde, und das mal vier. Schlangestehen können sie als gelernte DDR-Bürger ganz gut. So gibt es also keine Probleme, und in der Zeit bis zum Schalter diskutieren sie die Schwächen des real versagenden Sozialismus.

Auf die Frage, was sie mit dem Geld machen wollen, kommt spontan: „Verjubeln.“ „Es reicht zwar nicht, um den Kudamm unsicher zu machen“, sagt ein Arbeiter, „aber mehr Westgeld als ich jemals in der Tasche hatte ist es allemal.“ Da nicken die meisten, und gleich geht das Diskutieren über zukünftige Lösungen des Problems mit den Reisezahlungsmitteln los. Sämtliche Vorschläge sind unorthodoxer als die offiziellen. Das reichte vom Abschaffen der „wertlossen Alu-Chips“ durch Übernahme der D-Mark bis zum Plündern der Schweizer Devisenkonten der SED-Bonzen.

Hoffnungen, daß auch das Problem gelöst wird, haben sie dann aber doch. „Jetzt, wo wir sogar die Mauer geschafft haben, wird der Reiserubel schon noch rollen“, sagt ein Punker und verschwindet im Plattenladen.

Torsten Preuß

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