piwik no script img

„Ach du Scheiße, haben wir zuerst gedacht“

Dortmunder Übersiedler reagierten gelassen auf Öffnung der Grenzen / „Was soll denn aus Ost-Berlin werden - ein Biotop?“ / „Das ist doch nicht gut für die BRD“ / „Jetzt können wir uns nicht mehr auf die Straße trauen“ / Erinnerung an alte Zeiten, „aber wir gehen nicht zurück“  ■  Von Bettina Markmeyer

Dortmund (taz) - Gehörlosenschule im Dortmund-Hacheney an der Glückaufsegenstraße: auf einem weitläufigen Gelände liegen zweigeschossige Flachdachbauten zwischen Rasenflächen und Zufahrtswegen. Dort wo sonst unterrichtet wird, sind jetzt DDR-ÜbersiedlerInnen untergebracht, Familien mit Kindern und junge Alleinstehende vor allem. Ruhig ist es hier, gelegentlich ein Auto. Die meisten Männer haben schon Arbeit, sie sind außer Haus.

Was die Bewohner hier zu den Ereignissen der letzten Nacht sagen? „Gehn Sie mal da rüber“, meint eine junge Frau und zeigt auf einen Fernsehraum gegenüber, „da sitzen die anderen, ich muß mich jetzt erst um die Wäsche kümmern.“ Keine Aufregung, keine Euphorie, nichts, was vermuten ließe, daß die Grenzen gefallen sind, daß Berlin fiebert, daß alle nur von einem reden: dem Tag, an dem die Mauer fiel und dem Nacht danach. Auf beiden Etagen läuft der Fernseher, unten Action auf SAT1, oben folgen zwei kleine Mädchen regungslos einem knallbunten Zeichentrickfilm. Der 18jährige Jan sitzt dabei und dreht einen Spielzeugbuggy in seinen Händen. Er ist vor zwei Wochen aus dem Bezirk Karl-Marx-Stadt über Prag hier hergekommen, Maurer von Beruf. „Was sagst du dazu, daß die Grenzen jetzt offen sind?“ „Ich weiß nicht“, er guckt kaum hoch. Keine Befreiung, keine Freude? „Nee, finde ich nicht, obwohl, jetzt haben's die Leute einfacher, die können jetzt rübermachen und sich alles angucken und dann entscheiden, ob sie dableiben oder nicht.“

In Berlin will er jetzt nicht sein, „ist doch alles überlaufen“. Und er fügt, sorgenvoller als der Finanzminster selbst es könnte, hinzu: „Die holen sich alle ihr Geld, gehen schön einkaufen, fahren wieder zurück. Das ist doch nicht gut für die BRD.“ Aus dem Fernseherlautsprecher stöhnt die Trickfilmprinzessin: „Der Bann, ich muß den Bann brechen!“

Unten sitzen Bettina, Ines und Thomas, der erst vor wenigen Tagen über Prag aus Gotha gekommen ist. Alle drei sind Mitte zwanzig, hatten in der DDR Ausreiseanträge laufen. Zwei von ihnen sind schließlich über Ungarn gekommen. Auch sie sind skeptisch. „Ach du Scheiße, haben wir als erstes gedacht“, sagt Thomas. „Jetzt wird die DDR total leer. Die wird wie ein Biotop, in das man nur noch fährt, um Urlaub zu machen. Und wir können uns hier gar nicht mehr auf die Straße trauen.“ „Das geht so wahnsinnig schnell alles. Soviele sind schon gekommen und viele auch, wo ich denke, die haben sich das gar nicht genau überlegt“, meint Ines. „Aber jetzt, heute morgen, denk‘ ich schon anders, viele kommen nur zu Besuch und sehen sich das hier an. Aber zurückgehen werden wir auf gar keinen Fall.“ An ihrer Entscheidung werde die offene Grenze nichts ändern. Thomas fällt ihr ins Wort: „Wir haben ja lange darüber nachgedacht und hatten die Ausreiseanträge laufen. Wir haben uns auch drüben politisch engagiert. Aber die Fronten waren so verhärtet, damals noch.“ „Und drüben“, meint Ines, „müßten wir ja jetzt auch noch mal von vorn anfangen.“

Bettina, Ostberlinern, ist doch „ein bißchen traurig, daß ich jetzt nicht in Berlin bin. Gleich als erstes heute morgen, als ich noch im Bett lag, hab‘ ich das gesehen. Also, mir standen die Tränen in den Augen. Es is‘ Wahnsinn. Wie die da auf die Mauer geklettert sind, man ist ja damit großgeworden, mit der Mauer. Gleichzeitig frag‘ ich mich, wie soll das weitergehen, mit dem Geld und so. Das ist ja wie in den fuffziger Jahren. Schwarzmarkt wieder, gehn sie alle schwarz in West-Berlin arbeiten und schön einkaufen, wohnen billig in Ost-Berlin. Was soll denn aus Ost-Berlin mal werden? Aus der Geschichte weiß ich ja, wie es mal war. Vielleicht wird es wieder so kommen, vielleicht auf 'ner anderen Ebene. So 'ne Not wie damals ist ja nicht mehr.“

„Aber hier ist auch nicht das Schlaraffenland“, meint Ines. „Wir werden arbeiten, wie drüben, und dann mal sehen.“ Und Thomas: „Daß das vielleicht auch nicht so leicht wird, wußten wir, bevor wir herkamen, es wird schon gehen.“ „So, und jetzt geht's zum Essen“, verabschiedet Bettina sich. Nebenan dröhnt noch immer die Glotze: Schießen, Schreien, quietschende Reifen. Davor füllt ein Sozialarbeiter mit einem Neuankömmling Formulare aus, ein paar Kinder spielen auf dem Flur, im Bad macht sich jemand an der Waschmaschine zu schaffen. Alltag as usual in Dortmund-Hacheney.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen