: SCHLAGBAUMFRÜHLING IM EIGENHEIM
■ Die Umgestaltung des dezentralen Wohngefühls
Also, sage ich am Telefon, ihr könnt euch ja nicht vorstellen, was hier los ist. Ich habe ja bisher geglaubt, in einem ruhigen Grenzbezirk zu wohnen, am Stadtrand sozusagen, wie bei euch in der Vorstadt. Ja, Mami, ich weiß, Kreuzberg und so, kam ja immer viel im Fernsehen und mit den Autonomen, aber wir wohnen ja direkt an der Grenze zu 61, und das ist nicht mehr so schlimm. Und Erster Mai war doch eigentlich ganz aufregend. Aber jetzt... Wo wir doch sogar 'n Ökodach mit Gras haben, ich hab‘ es selber mit eingepflanzt, echtes Gras, muß auch immer besprengt werden, damit's nicht braun wird, und jetzt der ganze Trabismog! Das überlebt ja kein normal geerdeter Grashalm. Und die Niedrigtemperaturheizung, und all der Quatsch. Ich war ja eigentlich immer dagegen. Von wegen familiäre Kiezkultur, und jetzt genau über tausend Leute, die für Kaffee und Schokolade anstehen. Wie, historischer Moment? Ich sage dir, dieser Samstag war ein Garaus. Mitten im historischen Moment mußte ich meinen Farbeimer mitten unter die Geschichtsträger in die überfüllte U-Bahn tragen. Da haben sie alle geguckt. „Ich bin ein Selbsthelferlein“, hab ich einer jungen Familie erklärt, „und muß auch im historischen Moment meine Selbsthilfestunden meiner Vierfünftel-trägt-der-Senat -Instandsetzungswohnung ableisten“. Und die ganze Fahrt über haben sich diese Qualitäts-Jeansjacken, wahlweise stone -washed oder blue-velvet an meiner Alternativsynthetik geschabt. Und beim Aussteigen hat die junge Familie ihren Kinderwagen rücksichtslos über meine schwarzen Schuhe gerollt, und beinahe wäre mein Farbeimer zermalmt worden. Stell dir vor, so ein Eimer weiße Umweltfarbe kostet doch heutzutage einundvierzig Mark neunzig. Ja und dann, als ich endlich am M-Platz ankam, wo sie jetzt gar nicht mehr „lätztär Bahnhof Bärlin West“ gesagt haben, da wurde ich eingekeilt und beinahe in 'n Osten geschoben, und dann riß ich mich los, mit blutigen Händen (vom Henkel meines Farbeimers) und wurde in die nächste Schlange geschwemmt. Und da schrien alle Hausfrauen: „Hinten anstellen!“ Dabei wollte ich doch gar keine Kaisertüte, sondern nur in meine Wohnung. Mit letzter Kraft hab‘ ich mich gerade noch am Türrahmen des Hauses festklammern können, das in den letzten 40 Jahren höchstens 0,01 Prozent der Anzahl von Leuten, die jetzt dastehen, aus dieser Zehn-cm-Entfernung gesehen haben, und da ist mir einen Augenblick schwindelig geworden. Würden die jetzt jeden Tag direkt vor unserer Haustür hin und herwesteln, und in unserm Vorgarten, wenn wir einen hätten, stundenlang für die freie Marktwirtschaft des Einzelhandels demonstrieren? Wie? Du verstehst nicht... Nein, ich bin nicht krank, nein... Du brauchst mir nix schicken... Nein keine warmen Unterhosen, ach ja... ja... nein... tschüß.
Ach, die haben in Westdeutschland doch keine Ahnung, wie schwer das Leben geworden ist. Früher war es anders, die Straßen leer, die Luft gesund, und die Stadtplanergesichter waren immer rotbackig vor Kita-Öko-Kiezkoller. Wir waren hier alle so richtig dezentral, wenn Sie wissen, was ich meine, und stolz drauf, daß wir uns der Metropolengesinnung verweigern konnten. Jeden Tag Widerstand leisten gegen Kudamm und Neubauten-Kollektivbalkon. Und nur der Doppeldecker schaute uns in die Altbauwohnung. Mensch, und die Dachterrassen, wo jetzt die Makro-Tomatenstöcke wachsen... Ob man die noch biomäßig essen kann? Leider kommt man zur Zeit bei der Verbraucherzentrale überhaupt nicht durch, weil die doch alle Kommerztraining mit den Ostlern machen. Gestern hat mich dann auch noch meine Freundin angerufen, warum ich nicht am Freitag bei der Diskussion „Dezentrale Kulturarbeit“ war. Sie hat nämlich eine Galerie und braucht Unterstützung. Was soll ich denn sagen. Jetzt kann ich mein Bett wieder umstellen. Da schauen mir ja nicht mehr nur die Grenzer unter die Bettdecke. Und Isolierfenster wären jetzt auch angesagt. Und überhaupt... Vielleicht müssen wir einfach umdenken. Perestroika, werde ich auf unserer Gesellschaftersitzung sagen, Perestroika ist auch bei uns nötig. Wie wär's mit einer Selbsthilfegruppe „Urbanes Wohnen“? Die vorderen Zimmer vermieten wir an 'Stern‘, 'Spiegel‘ und taz beziehungsweise an grenzübergangsarme Bürger, die wegen dem feeling kommen. Das ist bestimmt sogar gemeinnützig. In den hinteren Zimmern kommen Büros rein, wo wir Anmeldungen und Bestellungen entgegennehmen. Das könnte unter Kultur laufen. Und zum Wohnen kaufen wir uns derweil ein Häuschen im Osten, am Amselhain oder in Hirschfelde vielleicht, sanierungsbedürftig natürlich, auf deutschdemokratische Staatskosten.
DoRoh
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