piwik no script img

Heiser durch die Flüstertüte

■ Unrepräsentative Umfrage bei Dienstleistenden auf dem Hermannplatz: Bulle von Besuchern begeistert / Banker trinkt nach 14 Stunden Arbeit mit Ostberlinern Bier / Busfahrer kriegt „in Kurven ungutes Gefühl“

Ob Ost- oder Westberliner - alle feiern. Alle? Die taz befragte am Hermannplatz drei, die arbeiten müssen.

Kontaktbereichsbeamter Jürgen Kamprath (45) steht seit drei Tagen auf dem Hermannplatz, beantwortet Ost-Touristen ununterbrochen Fragen: „Ich habe 61 Dienststunden hinter mir, bin aber immer noch begeistert von der Freundlichkeit der DDR-Besucher. Jede Minute habe ich meinen Spaß, auch wenn ich bis zu zwölfeinhalb Stunden vor der Sparkasse stehe.“ Die sozialistischen Umgangsformen mit Bruder- und Schwesternkuß haben es ihm angetan. Aber der Job streßt auch. „Manchmal muß ich zur Flüstertüte greifen, weil ich langsam heiser werde. Abends merke ich meine Beine vom vielen Stehen. Ich hoffe, daß der Besucherstrom sich bald wieder abschwächen wird“. Wenn die Leute wissen wollen, wie sie zum Kudamm kommen, interessiert ihn vorher jedesmal: „Wo kommen Sie denn her?“ Und antwortet: „Linie 29, aber setzen Sie sich oben hin, da können Sie am meisten sehen“.

Zweigstellenleiter Eugen Eggert (49) stand die letzten drei Tage in seiner Sparkasse, verteilte die Wartenden an die Begrüßungsgeld-Schalter: „Freitag habe ich 14 Stunden gearbeitet. Ich halte noch lange durch, nur die DDRler, die sind alle abgeschlafft. Naja, die haben vor der Sparkasse drei bis vier Stunden gewartet, die Kinder schreien, aber keiner hat bisher was Böses gesagt. Ich könnte immer weiter machen. Manche Kollegen nicht, die können zwar 'ne ganze Nacht in der Bar stehen, hier werden sie schon nach zwei Stunden müde. Ich sag‘ zu denen immer: Ihr kriegt 'ne Urkunde, Ihr seid dabei gewesen, am Freitag den 11.11. um 11 Uhr 11. Die Zusammenarbeit mit der Polizei klappt prima. Ärger hatte ich nur am Freitag mit der Westberliner Kundschaft, die konnte nicht warten.“ Und die Familie? „Meine Frau ist nicht böse, daß ich das gesamte Wochenende arbeite, die kommt selbst her, kocht Kaffee für die Leute in der Schlange. Abends gehen wir noch mit unserem Ostberliner Besuch um den Häuserblock, ein Bier trinken. Für die habe ich auch meinen Sonntagsanzug an. 198 Mark - sonst trage ich die billigeren Sachen.“

Busfahrer Lothar Raphael (54) fährt den „95er“: „Mit den vielen Fahrgästen ist es ungeheuer anspannend. Die steigen hinten zu, die Tür klemmt, machen den Gang nicht frei und jedesmal muß ich die von vorne bitten, nach hinten durchzurutschen. Wegen des vielen Gewichtes im Bus kriege ich in Kurven ein ungutes Gefühl. Wenn das immer so wäre, wie die letzten Tage, dann würden die jüngeren Kollegen die Rente nicht erreichen. Zu Hause rede ich etwas lauter, meine Frau erträgt das, zwar nicht gelassen. Aber es muß ja sein.“

diak

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen