: Gefundenes Fressen für die Medien
■ Wie sich Radio und Fernsehen auf das sensationelle Ereignis stürzen
Es sind die Bilder, die besoffen machen. Die Bilder von der Menge der DDR-Bürger, die des Nachts die Grenzposten überlaufen, von den lachenden, johlenden Berlinern, West wie Ost, die die Mauer vor dem Brandenburger Tor erklimmen und das Spalier der jubelnden, die jeden Zweitakter beklatschen, der in eine blaue Wolke gehüllt den Kürfürstendamm ansteuert. Ich muß gestehen, ich konnte mich nicht sattsehen an diesem Abend, nicht satthören. Immer wieder diese Bilder.
In solchen historischen Situationen, wo die Ereignisse sich überschlagen und die Welt den Atem anhält, da hat vor allem das Radio die Nase vorn. Denn während man im Stau steht, weil die Ladas und Trabis die Straße verstopfen, ist man stets dabei, zeitgleich sozusagen. Ist an der Invalidenstraße, am Checkpoint Charly oder am Grenzübergang Herleshausen. Das spezifische dieses heißen Mediums, seine Faszination, indem es Zeit und Raum überwindet und synthetisiert, es kommt besonders in solchen Situationen zum Tragen.
Und es ist das Fernsehen, das die Realität einfängt, authentisch und direkt. Das Erstaunen und die Fassungslosigkeit der „Besucher“, die für ihre Gefühle keine Worte finden. Aber so, wie dieses Medium die Realität sprechen läßt, so degradiert es sie auch, wenn etwa das Brandenburger Tor zur Staffage für Horst Schättle wird, der live für heute berichtet. Und es verfremdet und beschönigt, wenn beispielsweise Bundeskanzler Kohl vorm Schöneberger Rathaus gnadenlos ausgepfiffen wird, dann wird mittels geschickter Aufnahmetechnik seine Rede im Fernsehen zumindest noch hörbar.
Sie sind im Vorteil, die Funkmedien, das muß man neidlos anerkennen. Während wir, das schreibende Gewerbe, mühsam nach Worten und Formulierungen suchen, das gestern noch Unvorstellbare zu beschreiben, halten sie einfach drauf, mit dem Mikro, mit der Kamera oder mit beidem. Die Worte, die Bilder, sie wirken ohne Kommentierung.
Nachdem die ARD am Donnertag abend beim Fall der Mauer dem Fußball noch Priorität gab und selbst auf zwei dämliche Interviews nicht verzichten konnte, war es am Freitag voll dabei. Selbst die Aktuelle Kamera, die sich zur Konkurrenz der bundesrepublikanischen Nachrichtensendungen gemausert hat, berichtete wahrheitsgemäß von den Problemen bei der Abfertigung, schickte ein Kamerateam mit dem Massenstrom in den Westen, um einen braven DDR-Bürger beim Verlassen eines Sex-Shops zu er tappen.
Und während die Programmverantwortlichen der ARD vor einigen Wochen für das Brennpunkt-Thema Wiedervereinigung nur eine dürre halbe Stunde vorgesehen hatten, war man diesmal in die vollen gegangen, mit zweieinviertel Stunden: Das war dem Anlaß ange messen.
Nur einen Punkt möchte ich herausgreifen: Es war nicht die Politikerrunde aus Momper, Diepgen, Vollmer, von Lambsdorff, die überzeugte - mit ihren konzeptuellen Überlegungen konnten sie schon gar nicht reüssieren, was Jürgen Engert, hart an der Peinlichkeitsgrenze agierend, herausfragte sondern es waren die Bürger der DDR, die überraschten. Hier war nicht diese aufgeregte Geschwätzigkeit, das Gieren nach Aufmerksamkeit, die Produktion von Worthülsen. Ruhig, nachdenklich, abwartend beantworteten sie die Fragen der beiden Moderatoren und brachten Fritz Pleitgen schon arg in Bedrängnis, der drauf und dran war, die Antworten auf Fragen zu geben, die er selbst gestellt hatte. Es war fast schon ein Anachronismus, die vorsichtige Ruhe und Nachdenklichkeit in diesem Medium, das immer schneller und hektischer wird.
Als am Ende dann alles vorbei war und ich zu RTLplus umschaltete, um Apokalypse now anzuschauen, erlebte ich ein kleines Wunder. Der Film, der mich noch im Kino fasziniert hatte, er ließ mich kalt. Und das lag nicht an der kleinen Mattscheibe, es lag an dem, was um mich geschah. Das Fiktionale, das mich einst in Erschrecken und Erstaunen versetzt hatte, es war schal geworden, angesicht einer Realität, die spannend und voller Überraschung war.
Karl-Heinz Stamm
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