: „Wir sollten keine neuen Landkarten zeichnen...“
Das folgende Gespräch mit der ehemaligen Charta-Sprecherin Petruschka Schustrowa wurde während des Kongresses „Mitteleuropa - zwischen Totalitarismus und Kommerzialismus“ Anfang November in Wroclaw (Breslau) geführt ■ I N T E R V I E W
Petruschka Schustrowa, Publizistin und Spezialistin für Mitteleuropafragen, arbeitet heute im Sprecherrat der Charta. Sie ist Mitglied im „Komitee zur Verteidigung der zu Unrecht Verfolgten“ (VONS) und ist kürzlich der neugegründeten „Bewegung für bürgerliche Freiheiten“ beigetreten.
taz: Glauben Sie, daß die Bewegung für bürgerliche Freiheiten eine Chance hat, sich zu entwickeln?
Petruschka Schustrowa: In den kleinen Städten und auf dem Land entwickelt diese Organisation konkrete Aktivitäten, in größeren Städten und in Prag gibt es Koordinierungsprobleme.
Ist jetzt die Zeit gekommen, in die Politik einzugreifen?
Ich glaube, daß das Eintreten für die Menschenrechte heute nicht mehr genügt, um aus der verfahrenen Situation herauszukommen. Wir müssen die unterbrochenen Stränge des politischen Denkens wiederaufnehmen, allerdings nicht im Rahmen einer einheitlichen Organisation, sondern pluralistisch, entsprechend den verschiedenen Strömungen.
Sie denken, daß sich schon verschiedene politische Strömungen artikuliert haben?
Halb und halb. Es gibt Organisationen mit konkreten politischen Zielen wie die unabhängige Friedensinitiative, und es gibt Vereinigungen wie die Bewegung für bürgerliche Freiheiten, in der sich ganz unterschiedliche Positionen herausbilden. Das Gründungsdokument der Bewegung für bürgerliche Freiheiten fordert die parlamentarische Demokratie. Nur gibt es uns keinen Hinweis, wie wir dahin gelangen.
Was waren Ihre Motive, zu dieser Tagung nach Wroclaw zu kommen?
Das Interesse am Schicksal Mitteleuropas.
In welchem Verhältnis stehen die Entwicklungen in Polen und in der CSSR zueinander?
Ich denke, daß die Entwicklungen zusammenkommen werden. An den Grundsatz des Prager Frühlings, daß die realsozialistischen Regime reformierbar wären, glaubt heute niemand mehr, und niemand verfolgt in der Opposition eine entsprechende Politik.
Worin betehen die Gemeinsamkeiten der ostmitteleuropäischen Staaten, die einen politischen Begriff „Mitteleuropa“ rechtfertigen könnten?
Die Gemeinsamkeit sehe ich nicht darin, daß diese Staaten 40 Jahre unter kommunistischer Herrschaft leben mußten. 40 Jahre sind eine kurze Zeit im Leben eines Volkes. Ungarn, die Slowakei, Böhmen und Polen haben jahrhundertelang eine ähnliche Entwicklung durchlaufen. Sie sind zur gleichen Zeit christianisiert worden, bildeten zur gleichen Zeit ein unabhängiges Königtum aus. Sie sind auch gleichzeitig - im 19. Jahrhundert - von der nationalistischen Welle heimgesucht worden. In Mitteleuropa hat sich gezeigt, daß die Bildung von Nationalstaaten eine Katastrophe war. Nach dem ersten Weltkrieg wurden diese Nationalstaaten hastig gezimmert, die Grenzziehungen waren unüberlegt und ungerecht, und die Staaten hielten keiner Belastungsprobe stand. Der deutsch-tschechoslowakische Konflikt der Zwischenkriegszeit verdeutlicht das. Die Sudetendeutschen sind von den Tschechen in ihren Rechten so stark beschnitten worden, daß sie der Hitlerschen Propaganda keinen Widerstand entgegensetzten. Das Münchner Abkommen war der tragische Höhepunkt dieser Entwicklung. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben viele Staaten dieser Region versucht, ihr Staatsgebiet ohne Rücksicht auf die historischen Gegebenheiten zu vergrößern. Kurz danach wurde alles vom Kommunismus überdeckt. Wenn das alte Unrecht nicht wiedergutgemacht wird, werden die alten Gegensätze erneut aufbrechen, sobald der „Deckel“ des Kommunismus vom brodelnden Topf genommen wird. Wir sehen am Beispiel der baltischen Staaten, die zweifellos historisch zu Mitteleuropa gehören, daß eine Lockerung der Zentralgewalt sofort alle nationalen Probleme in Ländern auf die Tagesordnung setzt, die lange Jahre als völlig pazifiziert galten. Ein weiteres Beispiel ist das Aufbrechen der nationalen Gegensätze in Jugoslawien, einem völlig künstlichen Staatsgebilde. Schließlich die CSSR, wo sich 1968 mit der politischen Freiheit sofort ein scharfer Gegensatz zwischen Tschechen und Slowaken auftat. Es ist eine Tragödie, daß der Kommunismus an der Macht die Xenophobie noch verstärkte.
Viele in der BRD sind, wie auch ich, der Meinung, daß unter die Grenzfragen ein Schlußstrich gezogen werden muß, wieviel Unrecht auch immer mit ihnen verbunden war.
Ich bin vor allem der Meinung, daß Grenzen nicht von irgendwelchen Supermächten festgelegt werden können. Eine freie Diskussion der Völker der Region über ihre Zukunft könnte sehr wohl zu freiwilligen Formen des Zusammenschlusses führen, somit also auch „Grenzfragen“ berühren.
Würden die beiden deutschen Staaten in einen solchen Prozeß miteinbezogen sein?
Das muß von allen, auch von den Deutschen, diskutiert werden. Aber die deutsche Kultur hat eine eigene, ganz selbstständige Originalität, auch in der staatlichen Organisation. In Prag ist es eine Lieblingsbeschäftigung mancher Leute, Landkarten neu zu zeichnen. Wir sollten das lassen - wir sind keine Politiker und keine Propheten.
Sollen die Nationalstaaten der Region nach dem Ende der realsozialistischen Herrschaft in einer Föderation aufgehen?
Die Staaten werden erhalten bleiben, aber die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gesellschaften sollten sich ändern.
Besteht die Gefahr, daß ein Staatenbund Ostmitteleuropa unter die ökonomische und damit auch politische Hegemonie Deutschlands geraten könnte?
Jeder der Geld hat, wird Hegemonie ausüben, denn wir haben nichts. Aber die ökonomische Hegemonie würde keine ernsthafte Gefahr für das Projekt eines Staatenbundes darstellen. Muß nicht der stärkere ökonomische Partner an der Prosperität des schwächeren interessiert sein?
Im Westen gibt es andere Erfahrungen.
Ich war noch nie im Westen.
Interview: Christian Semler
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