: Leipzig: Hilflose Opposition - taumelnde SED
Im alten Stil versucht der neue SED-Bezirkschef, die Selbstfindung der Opposition zu behindern / Versammlungsräume verweigert / SDP warnt vor Verdrängung der Wiedervereinigungsphantasien / 5.000 bei SED-Versammlung ■ Aus Leipzig Walter Jacobs
Kurz vor zehn Uhr am Samstag morgen in der Leipziger Innenstadt. Die Schlange vor dem Eingang der Staatsbank wächst und wächst. Weit mehr als tausend Leipziger Bürger stehen um ihre 15 Westmark an. Ein paar Straßen weiter nur sammeln sich unterdessen Tausende auf dem Dimitroff-Platz.
„Heute bin ich froh, hier zu sein, denn die, die hier stehen, sind diejenigen, die um die kommunistischen Ideale ringen. Es geht nicht um Bananen, es geht um die Wurst.“ Roland Wötzel, SED-Bezirkschef von Leipzig, spricht zu den etwa 5.000 SED-Genossen und fordert dazu auf, die „Erneuerung des Sozialismus“ auf der Grundlage der „marxistisch-leninistischen Weltanschauung“ zu beginnen. Damit hat nicht nur die Menschenansammlung vor der Staatsbank nichts mehr im Sinn. Auch auf dem Dimitroff-Platz sind einige von dem gerade frisch inthronisierten SED -Häuptling enttäuscht, der sogar davon spricht, die Partei sei selbststreibende Kraft der Wende gewesen. Mutiger präsentierte sich Kurt Schmidt, Parteisekretär in einem Transportunternehmen: „Als die Erneuerung in Leipzig begann, haben wir sie böse gebremst. Wir sind noch nicht auf dem Zug der Erneuerung und nicht in der Lage, die Lok zu steuern.“ Dafür gibt es viel Beifall, doch wenig später zeigt sich, daß die hier versammelten SED-Mitglieder unter Erneuerung in erster Linie einen Personenwechsel verstehen, nicht jedoch die Aufgabe ihres Macht- und Führungsanspruches. Als Schmidt davon spricht, den Parteiapparat um 75 Prozent zu verringern und die freiwerdenden Räume zum Beispiel dem „Neuen Forum“ bereitzustellen, um aus der Parteizentrale „ein demokratisches Haus“ zu machen, kommen die ersten Pfiffe. Als er sich danach vorsichtig den Staatssicherheitorganen zuwendet, wächst sich der Unmut zu einem regelrechten Pfeifkonzert aus. Schmidt muß das Thema wechseln. Wenig später zeigt die örtliche Parteiführung, wie sich die fortwährend auf den Lippen geführte Offenheit und Ehrlichkeit versteht. Als der Chef der 'Leipziger Volkszeitung‘ aus der Menge heraus niedergebrüllt wird, weil er den Aufruf zur Demo am Freitag nicht im Blatt hatte, eilt Professor Klaus Rendgen, SED-Chef an der Karl-Marx -Universität, zum Mikrofon. 150 Studenten hätten am Donnerstag abend die Druckerei und das Rathaus besetzt und so den Abdruck verhindert, sagt Rendgen. Das ist eine Lüge. Tatsächlich kann von Besetzung keine Rede sein. Zwar waren am späten Donnerstag abend Studenten aus Sorge, bei der SED -Demo könnte es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen, zum Rathaus gezogen, aber die Entscheidung, den Aufruf nicht zu drucken, wurde vom Bezirkschef Wötzel im Verein mit seinem Stellvertreter Pommert und Professor Rendgen dort gefällt.
Am heutigen Montag will die Opposition auch erstmals gezielt Reden halten. Die verschiedenen Gruppen nutzten am Samstag ein Treffen mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau, um sich abzusprechen. Dabei zeigte sich, daß die Leipziger Opposition dem Windelalter noch längst nicht entwachsen ist und ein Gegengewicht zur Organisation der SED nicht einmal in Ansätzen erkennbar ist. „Wir brauchen einfach Zeit“, sagte ein Vertreter des Neuen Forums. Dabei tut die SED alles, um den Prozeß zu verzögern. Eine Genehmigung, eigene Informationsblätter zu drucken, wird der Opposition ebenso verwehrt wie Gruppenräume für alle neuen politischen Kräfte.
Im Gespräch mit Rau, der sich zur Eröffnung einer riesigen Kulturpräsentation aus NRW in Leipzig aufhält, ging es immer wieder um die Frage des künftigen Verhältnisses zwischen BRD und DDR. Sonja Schröder vom „Demokratischen Aufbruch“ beschrieb die Zukunft so: „Wir gehen von einer Zweistaatlichkeit aus“, die im Rahmen einer europäischen Regelung in eine „Konföderation“ münden könne. Andreas Bergmann von der „Sozialdemokratischen Partei der DDR“ (SDP) warnte vor dieser Verdrängung, denn über „das Thema Wiedervereinigung wird an jeder Straßenecke in dieser Stadt und in diesem Land gesprochen“. In der Oppositionsbewegung, so ein anderer Sprecher, sei die Deutschlandfrage ganz stark „angstbesetzt“. Es gebe aber eine „geheime Phantasie“ bei diesem Punkt. Die Vereinigung sei als „Befürchtung oder Hoffnung bei allen im Hintergrund da“. Lange, so einige Stimmen am Samstag, könne man sich diese Abstinenz allerdings nicht mehr erlauben, sonst laufe man Gefahr, sich vom Volk schon bald so weit zu entfremden wie jetzt die SED.
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