: Vollgeparkte Geisterstadt
Bärbel Bohley: Öffnung der Mauer Zeichen von Inkompetenz der DDR-Regierung ■ E R E I G N I S D D R
Das „Kosmos„-Kino in der Ostberliner Karl-Marx-Allee: leer. Kein DDRler interessiert sich zur Zeit für Barbra Streisand in Nuts - Kudamm ist schöner als Kino. Auch das neueröffnete Peking-Restaurant in der Friedrichstraße besuchten am Wochenende nur japanische Touristen: Ost-Berlin war eine vollgeparkte Geisterstadt; auf den Straßen in Grenzübergangsnähe stapelten sich die Autos aus Rostock, Leipzig, Halle, Dresden, Gera und Erfurt.
Wegen der neuen Reisefreiheit fassen viele erstes Vertrauen in Egon Krenz; Bärbel Bohley vom Neuen Forum ist allerdings nach wie vor entsetzt über das Chaos: Mit der Öffnung der Mauer habe die Regierung ihre Inkompetenz bewiesen, und unter den jetzigen Umständen wären freie Wahlen eine Katastrophe.
In der gesamten DDR kam es am Wochenende wegen der Westbesuche zu Produktionsausfällen: Die 'Berliner Zeitung‘ klagt über leere Werkhallen und fehlende Waren. Umgekehrt wurden die ersten Westberliner Radfahrer im Ostteil der Stadt gesichtet, obwohl die Einreise mit Zweirad nach wie vor offiziell verboten ist. Auch bis dato „unerwünschte Personen“ sind wieder drüben: von Roland Jahn bis Veronika Fischer. Und Stefan Heyms Autobiographie Nachruf sowie sein Roman über den 17. Juni Fünf Tage im Juni sollen 1990 endlich in der DDR erscheinen. Ebenso Rolf Henrichs (Neues Forum) scharfe Abrechnung mit der SED, Der vormundschaftliche Staat.
Unterdessen haben Arbeiter des „Verkehr- und Tiefbaukombinats“ auf dem Leipziger Karl-Marx-Platz eine Litfaßsäule als eine Art öffentliches schwarzes Brett aufgestellt. Und in der Ostberliner Carl-von Ossietzky -Schule beschloß gestern ein Bürgerversammlung die Einrichtung eines Unterschungsausschusses wegen der relegierten Schüler. Angekündigt sind außerdem eine Demo zu Rumänien (am 15.11. ab Pankow-Kirche zur rumänischen Botschaft) und eine DDR-weite Menschenkette auf der F96 am 3.Dezember. Nötig: 500.000 Hierbleiber.
In den Ostberliner Zeitungen wimmelte es am Wochenende von kritischen Leserbriefen, viele fordern die Bestrafung der Verplaner und Parteiegoisten. In etlichen Städten wurden die alten Genossen bereits durch neue SED-Sekretäre ausgewechselt; der Neue in Halle, Roland Claus, ist erst 34 Jahre alt. Zu groß war der „seelische Druck durch die gegenwärtigen Ereignisse“ für drei 1. Kreissekretäre in Perleberg, Köthen und Bautzen: Gerhard Uhl, Herberte Heber und Helmuth Mieth begingen Selbstmord.
Das Ostberliner Umweltministerium belegt in einer Geheimstudie, daß die DDR die Elbe zur Kloake verkommen lasse: Schuld sei vor allem das Chemiekombinat Bitterfeld. Sogar der StaSi verspricht Selbstkritik (gegenüber 'adn‘), allerdings nicht ohne noch einmal zu betonen, daß die Kampfkraft der Partei gestärkt werden muß.
Die Sperrzone entlang der ganzen DDR-Grenze ist aufgehoben. DDR-Innenminister Friedrich Dickel: „Die Grenztiefe wird verringert„; in den fünf Kilometer breiten Streifen dürfen jetzt auch Westdeutsche reisen. Und für die DDRler haben deutschdemokratische Rechtsanwälte einen Entwurf für ein neues Reisegesetz vorgestellt: für jeden ab 14 einen Reisepaß und jährlich einen bestimmten Betrag in Devisen. Ein Bonbon für DDR-Übersiedler wiederum verspricht der Tourismusminister der Balearen; rund 10.000 Ex-DDRler dürfen dort demnächst kostenlos Urlaub machen.
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