piwik no script img

Neues Forum im Gründungsfieber

Am Freitag abend fand die Gründungsversammlung des Bezirks Berlin Prenzlauer Berg statt / 150.000 Mitglieder folgten dem Aufruf / Neues Forum will an Wahlen teilnehmen - aber nicht als Partei / Klare Konzeptionen zur Wirtschaftsreform liegen noch nicht vor / „Ausländische“ Prominenz auf der Rednerliste  ■  Aus Ost-Berlin Michael Rediske

Die Tagesordnung hilft beim Verdrängen. Für die zweieinhalbtausend Menschen, die am Freitag abend in die Gethsemanekirche am Prenzlauer Berg zur Gründungsversammlung der ersten Bezirksorganisation des Neuen Forums gekommen sind, ist der Fall der Mauer kein Thema. Rolf Henrich, der längst zur Prominenz zählt, meint nach der Veranstaltung etwas erschöpft: „Wenn wir über die Mauer geredet hätten, dann wären alle Emotionen hochgekommen, und die Veranstaltung wäre nur darüber gegangen.“

So bleibt es bei der Tagesordnung. Am Pult, an dem sonst der Pfarrer steht, stellt Reinhard Schulz den Stand der Dinge vor. Das Neue Forum hat drei Tage zuvor seine „Anmeldung“ vom Innenministerium bestätigt bekommen, jetzt kann es offiziell „in Gründungshandlungen eintreten“. Diese Veranstaltung ist eine solche Handlung. Schulz gibt bekannt, daß „150.000 bis 200.000“ den Aufruf unterschrieben haben und wo es jetzt langgehen soll. Man fordert eine Wiederholung der gefälschten Kommunalwahlen und will daran als „Vereinigung“ teilnehmen.

Praktischerweise hat sich das Forum deshalb entsprechend der Wahlkreisgrenzen installiert. An der Kirchenwand hängen Straßenkarten des Stadtteils mit säuberlich eingezeichneten Grenzen: Jedes Straßenkarre wird von einer Kontaktperson betreut. Die sitzen im Altarraum an einem Tisch und haben zur leichteren Identifizierung Zettel mit der Nummer ihres Wohnbezirks an die Brust geheftet.

Neben der „territorialen Organisation“ kann Schulz auch mehr als 20 „Themengruppen“ ankündigen, in denen Positionen und Perspektiven erarbeitet werden sollen. Von „Familie und Gesellschaft“ über „Medien“, „Rechtspflege“, „Ökologie“ und „Frauen“ bis zu „Handel und Versorgung“: kaum ein Bereich, der nicht in Frage zu stellen ist. Auch hier soll alles seinen geordneten Lauf gehen, jedeR kann sich in Listen eintragen oder bei der Kontaktperson der Arbeitsgruppe melden. Die Adressen sind Plakaten an den Kirchenwänden zu entnehmen.

Weiter geht's mit dem Programm. Kandidieren will das Neue Forum, aber bloß keine Partei werden, denn - so Rolf Henrich später in kleinem Kreise -: „Wer Partei sagt, der muß auch Apparat sagen. Und wir wollen von unten organisiert bleiben.“ Bisher gibt es einen „Konsens“ über Grundforderungen. Reinhard Schulz verliest den Katalog, der von der Trennung zwischen Staat und Partei über Bildungs-, Strafrechtsreform, Rehabilitierung, die eigene Zeitung bis hin zur Offenlegung der Wirtschaftsstatistiken und Devisenbilanzen reicht. Wie wenig das noch Programm ist, zeigt sich beim Thema Wirtschaft. Daß man „nicht planen kann, ohne die Statistiken zu kennen“, ist zwar eine Binsenweisheit, aber in welche Richtung soll es gehen? Den Begriff „soziale Marktwirtschaft“, den die Sozialdemokratische Partei (SDP) gebraucht, vermeidet das Neue Forum, „von Sozialismus“ andererseits wollen sie vorläufig nicht reden, weil der Begriff so „diskreditiert ist“. Was bleibt, ist Populismus: der Verweis auf den „Grundwert soziale Gerechtigkeit“ und die Abgrenzung von der „technokratischen Marktwirtschaft in Ungarn“ (Schulz). „Der Subventionsabbau darf nicht zu Lasten der Arbeitenden gehen“, das Neue Forum werde „gewerkschaftliche Positionen prüfen und verteidigen“ - egal ob die des FDGB oder neuer, unabhängiger Forum-Beriebsgruppen, deren Gründung am Freitag angekündigt wurde.

Als später Zettel aufs Podium gereicht werden und die Forum -Prominenz abwechselnd die Fragen beanwortet, merken die Zuhörer, daß zumindest die Sprecher ahnen, welche sozialen Konflikte jede Wirtschaftsreform produzieren wird. „Soll die Mark konvertibel werden?“ liest Rolf Henrich eine Frage vor und gibt zu, daß „wir darüber keinen Konsens haben“. Seine persönliche Meinung: „Langfristig werden wir nicht umhinkommen.“ Und wie soll das anders als mit einer massiven Abwertung auf Kosten des Lebensstandards aller gehen? Aber das ist heute abend nicht das Thema, die Leute wollen erst einmal Informationen tanken. Sie wollen wissen, wie die Spenden und Beiträge des Neuen Forums verteilt werden: „50 Prozent an die Basis, 25 an die Bezirke, je 12,5 Prozent zentrale Aufgaben und Solidaritätsarbeit“, wird geantwortet. Sie erfahren, wie das Forum zu anderen Parteien steht: Keine Beziehung zu den Blockparteien, sagt Bärbel Bohley, die „sind alle beteiligt an unserem jetzigen Elend“. Aber auch mit der SDP will man weder Programm noch Wahlliste teilen. Die Begründung von Sprecher Bernd Kähne: „Wir müssen eine gewisse Abgrenzung setzen und möchten unseren autonomen Status aufrechterhalten.“

Eine Gründungsversammlung nach Plan an diesem sonst so chaotischen Tag. Selbst die Gäste, die man der historischen Stunde zu verdanken hatte, wurden fein säuberlich in die Rednerliste gesteckt. Frankreichs links-alternativer Präsidentschaftskandidat (und ehemaliger KP-Dissident) Pierre Juquin durfte (auf deutsch) die DDR-Opposition als „Vorreiter einer ökologischen Wirtschaft“ preisen und zur europäischen „Solidarität der Linken, Grünen und Alternativen“ auffordern. Und Wolfgang Templin, der mit Roland Jahn „illegal“ über die Grenze gekommen war, konnte unter großem Beifall seine Landsleute bitten: „Kämpft, daß alle, die man aus dem Lande getrieben oder gezerrt hat, endlich zurückkönnen.“ Sein Wort ins Ohr des Neuen Forums, das die Forderung nach Rückkehrerlaubnis für die Ausgebürgerten auch an diesem Abend noch nicht im Katalog hatte.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen