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...und keiner wollte mitsingen

■ Politikerriege intonierte vor dem Rathaus Schöneberg das Deutschlandlied / Kohl wollte Bad in der Menge und ging selber baden / ARD verschwieg die Pleite

Hätte nicht Bundeskanzler Kohl selbst die Peinlichkeit enthüllt, viele in Westdeutschland hätten einen seiner größten Reinfälle nicht gemerkt. Extra aus Polen war er eingeflogen, um sich und die CDU vor dem Berliner Rathaus Schöneberg in die Reihe von Ernst Reuter und Willy Brandt zu stellen. Er wollte es sein, der dieses Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte abschließt. Doch offenbar sind die Berliner im Angesicht der Mauer für alles Deutschtümelnde sensibler als der Bonner dies erwartet hatte. Seine gesamte etwa 15-minütige Rede ging in einem Meer von Pfiffen und „Aufhören, Aufhören!„-Rufen unter. Er schubste den Regierenden Bürgermeister Walter Momper, der die respektlose Menge beruhigen wollte, weg und redete gegen den Sturm der Entrüstung an. Bis zum bitteren Ende. Das Deutschlandlied, angestimmt von Parlamentspräsident Wohlrabe, der „Übelkrähe“ (Herbert Wehner), intonierten Kohl, Genscher, Wohlrabe und Momper alleine. Pfeiffen, Lachen, Johlen war die Antwort der 20.000, die sich auf dem John-F.-Kennedy Platz zur parlamentarischen Kundgebung eingefunden hatten. Die Berlinerinnen und Berliner stimmten dem zu, was ihnen zuvor Walter Momper gesagt hatte: Dies ist nicht der Tag der Wiedervereinigung, das ist der Tag des Wiedersehens. Wer nicht dabei war, oder die Live-Übertragung im Dritten Programm gesehen hat, hätte davon niemals etwas erfahren. Die Nachrichtensendungen der ARD haben diese absolute Abfuhr des Kanzlers in Berlin verschwiegen. Die Berliner Abendschau berichtete nur von Pfiffen gegen den Kanzler, in der Sondersendung „Brennpunkte“ wurde darauf auch nicht weiter Bezug genommen. Und einen Gutteil zur Geschichtsklitterung haben auch die Tontechniker beigetragen, die aus der vor dem Rathaus nicht zu verstehenden Rede von Kohl seine Worte fürs Fernsehpublikum herausgefiltert und den Protest zur Kulisse gemacht haben. Auch die Berliner Zeitungen erwähnten den Reinfall mit der Hymne nicht. Die Springer Zeitung „Morgenpost“ versuchte zu retten, was nicht zu retten war und schrieb: 20.000 vor dem Rathaus Schöneberg, 200.000 am Breitscheidplatz, suggerierend, daß sich dort, bei einer Kundgebung der Berliner CDU, wohl die wirklichen Berliner aufhielten, und nicht die, die eine „andere Republik“ (Kohl) wollten. Auch der liberale „Tagesspiegel“ erwähnte die verunglückte Hymne nicht und behandelte den ausgebuhten Bundeskanzler so nebenbei.

Kohl hatte sich von seinem Auftritt vor dem Rathaus Schöneberg einen symbolträchtigen Wahlkampfauftakt versprochen. Als Kanzler der Deutschen Einheit wollte er sich ins Geschichtsbuch eintragen, die Menschen vor dem Rathaus Schöneberg haben ihm den Stift aus der Hand genommen. Mit dazu beigetragen hat aber auch Außenminister Genscher. Daß er, bevor der Kanzler ans Mikrofon kam, noch unmißverständlich erklärte, die polnische Westgrenze sei sicher, war ein deutlicher Affront gegen den Kanzler und hatte auf dem Rathausvorplatz jubelnden Beifall gefunden.

Die Öffnung der Grenzen wird jetzt zum Triumph für den rot -grünen Regierenden Bürgermeister Walter Momper. Unter seiner Regierung kann für die Stadt vollendet werden, was Willy Brandt 1961 mit dem zornigen Satz „Die Mauer muß weg“ begonnen hatte.

Brigitte Fehrle

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