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Kohls „eklatantes Versagen vor der deutschen Geschichte“

Empörung über Kohls Unfähigkeit, auf die geschichtlichen Veränderungen zwischen den beiden deutschen Staaten zu reagieren / Momper: „Kanzler redet und lebt an den Menschen vorbei“ / Kohl lehnt Vorschlag der SPD zu einem runden Tisch auch in der BRD ab / Konzeptlosigkeit der Bundesregierung offenkundig  ■  Aus Bonn Gerd Nowakowski

Die sich überschlagende Bewegung in der DDR hat die politisch Verantwortlichen in Bonn überrollt. Insbesondere Kanzler Kohl steht nach seiner blamablen Vorstellung in Berlin unter Beschuß. Walter Momper brachte Kohls Rolle in der Geschichte auf den Punkt: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“

Zusätzlich wurde offenkundig, daß in den Ministerien Konzepte fehlen, wie die deutsch-deutsche Gemeinsamkeit auf praktische Grundlagen gestellt werden kann. Schon die überraschend geöffneten Grenzübergange zur Bundesrepublik stellen die Behörden vor Probleme. Helmut Kohl aber glaubt, die Bundesregierung habe alles im Griff.

Statt dessen hat sich ein heftiger Streit zwischen den Parteien entwickelt. Bundeskanzler Helmut Kohl lehnte scharf die SPD-Forderung nach einem runden Tisch ab, an dem die auf die Bundesrepublik zukommenden Probleme diskutiert werden sollen. Eskaliert ist auch der Dauerstreit zwischen Kohl und dem Regierenden Bürgermeister Momper. Während Kohl Zweifel am Momperschen „Verfassungsverständis“ äußert, weil Momper vom „Volk der DDR“ sprach, attestierte Momper dem Bundeskanzler ein „eklatantes Versagen in der entscheidenden Situation in der deutschen Geschichte“. Die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung nannte Momper „niederschmetternd“.

Hintergrund der Kohlschen Verärgerung ist, daß er am vergangenen Freitag auf der Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus erbarmungslos ausgepfiffen wurde. Der Kanzler tat kund, er habe sich „geschämt“, daß solche „Pöbelszenen“ möglich gewesen seien. Kohl „lebt und denkt offenbar an den Gefühlen der Menschen in dieser histrorischen Stunde vorbei“, konterte Momper.

Der Kanzler offenbare, daß er eine tiefe Abneigung gegen die demokratische Entwicklung und das Selbstbestimmungsrecht in der DDR habe. Außerdem wolle er nicht begreifen, daß die Menschen in der DDR die Wiedervereinigung nicht interessiere.

Willy Brandt und SPD-Chef Hans-Jochen Vogel haben gestern nach einer Sitzung des SPD-Parteivorstands erneut die Forderung nach einem runden Tisch erhoben, an dem Regierung, Opposition, Verbände, Gewerkschaften und Kirchen Platz nehmen sollten. Ziel solle die Koordnierung der Hilfsmaßnahmen für die DDR und für die Übersiedler sein, sagte Vogel. Nur eine „große nationale Kooperation“ sei zur Bewältigung der anstehenden Probleme in der Lage. Brandt forderte die Bundesregierung auf, die von der DDR vorgeschlagenen gemeinsamen Kommissionen sehr genau zu prüfen, die eine neue Stufe der Zusammenarbeit bilden könnten.

Runde Tische möchte Bundeskanzler Kohl dagen nur in Ungarn oder Polen akzeptieren, wo diese einen Schritt zur Ablösung der „Diktatur“ gewesen seien. Eine solche Situation gäbe es nicht für die Bundesrepublik. Außerdem funktioniere die Zusammenarbeit von Institutionen und Verbänden, befand Kohl, der inzwischen wieder nach Polen gereist ist.

Keine Klarheit über witschaftliche Hilfen

Ziemlich vage bleiben auch wirtschaftliche Hilfen der Bundesrepublik, um so den Demokratisierungsprozeß in der DDR zu unterstützen. Nach der Sondersitzung des Bundeskabinetts am Samstag tat zwar Helmut Kohl kund, er habe dazu konkrete Vorstellungen, wolle aber derzeit noch nicht darüber reden. Reisefreiheit allein reiche nicht für jene „neue Dimension wirtschaftlicher Hilfe“ für die DDR, von der Kohl im Falle von Veränderungen vor wenigen Tagen im Bundestag sprach. Zu richtigen Reformen bedürfe es freier Gewerkschaften, einer freien Presse und freier Wahlen, sagte Kohl. Alle Hilfsmaßnahmen können nach Kohls Überzeugung „nur dann erfolgreich sein, wenn das System der staatlichen Planwirtschaft durch eine sozial verpflichtete marktwirtschaftliche Ordnung abgelöst wird“. Der CDU -Vorsitzende wollte das nicht als Bedingung verstanden wissen, sondern nur als Ergebnis von „Lebenserfahrung“.

Der Bundeskanzler kündigte an, daß er sich voraussichtlich Anfang Dezember mit dem DDR-Staatsratsvorsitzenden Krenz treffen werde, mit dem er zuvor telefoniert hatte. Bereits am 20.November soll Kanzleramtsminister Seiters zu Krenz und Modrow reisen.

SPD: Früher zu Krenz!

Die SPD hat diese Zeitpläne kritisiert. Ein persönliches Treffen sei viel früher notwendig. „Da läßt diese Bundesregierung 30 Tage ins Land gehen, Kohl quatscht dabei von Wiedervereinigung und der nationalen Frage, ohne auch nur einen einzigen Schritt zu tun“, sagte Walter Momper. SPD -Chef Vogel erklärte, er habe nichts gegen ein Treffen Kohls mit dem SED-Parteichef Egon Krenz. Doch sei erkennbar, daß Modrow in Zukunft das Amt des Regierungschefs eigenständig ausüben wolle. Damit sei dieser der eigentliche Gesprächspartner des Bundeskanzlers, meinte Vogel. Der Oppositionsführer verlangt eine neue Qualität der wirtshaftlichen Zusammenarbeit, die den Menschen in der DDR wirtschaftlich eine Perspektive biete. Dafür seien auch gemeinsame Institutionen mit Sitz in Berlin erforderlich.

Wie die Hilfen aussehen sollten, läßt derzeit aber auch die SPD offen. Am konkretesten sind die Grünen. Die Partei, die sich intern über die Teilnahme am Absingen der Nationalhymne im Bundestag fetzt, hat eine drastische Reduzierung des Rüstungshaushalts angemahnt. Kasernen sollten dauerhaft für Übersiedler bereitgestellt werden. Hinzu kommen soll nach der Vorstellung des Parteisprechers Ralf Fücks, die zweite Stufe der Steuerreform auszusetzen. Die damit freiwerdenden zehn Milliarden Mark sollten als Grundstock für eine ökonomische und ökologische Zusammenarbeit mit der DDR und Osteuropa eingesetzt werden, schlug Fücks vor. Voraussetzung aber seien verbind liche Zusagen eines politischen Pluralismus und freier Wah len.

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