: Zur Mindestausstattung linker und grüner Köpfe
Bernd Ulrich von der Gruppe „Aufbruch“ der Grünen über Deutschlandpolitik ■ D E B A T T E
1. Was wir erleben, ist die erste gewaltfreie Revolution auf deutschem Boden. Gewaltfreiheit ist aber nicht das einzige Kennzeichen, das diese deutsche Revolution einzigartig macht. Es ist eine Revolution ohne revolutionäre Strategie und revolutionäre Partei. Es ist in der Tat, was es bisher nur als Mythos gegeben hat: die Selbstbewegung des Volkes. Statt AnführerInnen hat die demokratische Bewegung in der DDR SprecherInnen - noch dazu sehr gute. Ihre Qualität besteht aber gerade nicht darin, vom Denken der Bewegung aus - und weggehend eine revolutionäre Strategie umzusetzen. Ihre Fähigkeit ist es, das Denken und Empfinden der Bewegung zum richtigen Zeitpunkt öffentlich zu formulieren. Die Revolution in der DDR war bisher so erfolgreich, nicht obwohl, sondern weil es ihr an AnführerInnen mangelt.
Diese Tatsache muß einen linken Reformismus zum Umdenken bringen, der sich nur als verlangsamte Revolution, durchgeführt mit ähnlichen Methoden, versteht.
2. Die Revolution in der DDR hat auch für uns hier eine offene Situation geschaffen, von der wir bisher nicht zu träumen gewagt haben.
Um es klar zu sagen: Die Wahrscheinlichkeit, daß wir noch einmal eine historisch so offene Situation bekommen werden in unserem Leben, ist nicht besonders groß.
3. Die Analyse unserer Lage ist am besten möglich anhand der Schlüsselsituation für die Entwicklung der Bundesrepublik der Kundgebung am Schöneberger Rathaus vom 11.November 1989:
-Noch vor Beginn der eigentlichen Kundgebung tagte das Berliner Abgeordnetenhaus. Darin hat es die AL geschafft, die SPD davon zu überzeugen, daß in der Resolution die Frage der Selbstbestimmung beider deutscher Staaten vor der Frage der Einheit rangieren muß. Die AL hat die SPD zu der Erkenntnis verführt, daß nicht ernstlich die 60 Millionen Westdeutschen für Wiedervereinigung sich aussprechen können, um hernach die 16 Millionen Ostdeutschen zu fragen, was sie denn dazu so ganz frei und selbstbestimmt noch zu sagen haben. Die CDU ist gegen dieses Denken der SPD und der AL mit aller ihr eigenen Gewalt in die Bütt gegangen, inklusive des verklausulierten Vorwurfs der „vaterlandslosen Gesellen“. Trotzdem ist die SPD bei der Entscheidung geblieben - einstimmig. Damit war die Vorentscheidung für die Kundgebung gefallen.
-Menschen aus beiden Teilen Berlins sind auf den Platz vor dem Rathaus gekommen, bewehrt mit schwarz-roten, schwarz-rot -goldenen und grünen Fahnen. Sie haben schon die Republikaner niedergepfiffen, deren Reden im Abgeordnetenhaus draußen zu hören waren. Sie waren nämlich nicht gekommen, um dem deutschen Nationalismus zu fröhnen. Sie wollten für Frieden und Selbstbestimmung demonstrieren. Sie haben den Tenor der nachfolgenden Reden von Walter Momper, Willy Brandt und Hans-Dietrich Genscher förmlich erzwungen. Sie wollten den Respekt vor der Bewegung in der DDR und deren demokratischer Kraft ausdrücken. Sie ließen dies Walter Momper sagen. Sie wollten den Völkern Europas sagen: „Wir Deutschen wollen mit den Nachbarn in Frieden leben. Sie haben Genschers UNO-Formel - Wir Deutschen werden die Grenzen Polens niemals antasten - den Mißklang genommen, die Westdeutschen wollten für alle reden. An diesem 11.11. hat Genscher den Satz tatsächlich vor den und für die Deutschen aus BRD und DDR gesagt.
Schließlich wollten die 30.000 Willy Brandt hören und sehen. Es war sein Tag. Einfach weil er verkörpert, was die Menschen dort mitteilen wollten: Frieden in Europa, die Deutschen als Friedenstreiber - endlich.
Was die Leute aber nicht wollten - von vornherein nicht -, das war Helmut Kohl. Frisch zurückgekehrt vom Eiertanz in Polen, war ihm der Wunsch, die deutsch-deutsche Karnevalsstimmung für eine nationalistische Aufwallung zu nutzen, von den Augen abzulesen. Also wurde er gnadenlos ausgepfiffen, die Nationalhymne mußte er fast ganz allein ins Mikrophon raunzen. Das nicht nur wegen der Hymne allein, die wohl niemals in der Lage sein wird, die Verbindung von Deutsch, Friedenswille und Bescheidenheit auszudrücken. Es war mehr noch das sichere Gefühl, daß selten ein Kanzler so wenig der historischen Situation gewachsen war, wie es Helmut Kohl jetzt ist. Ein Sicherheitsrisiko sang die Nationalhymne. Und genau in diesem Moment schied sich vor den Kameras der Welt für einen Moment das Nationale vom Nationalistischen - und das in Deutschland. Für all das gebührte dem Berliner „Pöbel“ (Kohl) das Bundesverdienstkreuz.
4. Unsere Aufgabe ist es jetzt natürlich, die offene Situation zu nutzen. Dazu sind zwei Dinge unabdingbar. Wir müssen Kopf und Herz öffnen für die historische Dimension der jetzigen Lage. Wir dürfen jetzt, wo uns der Wind der Geschichte um die Nase weht, nicht krampfhaft die Luft anhalten - weder aus Angst vor der Größe der Aufgabe noch aus linker Bedenklichkeit, daß es auch national ist. Es kommt jetzt alles darauf an, die Kluft, die sich zwischen dem Nationalen und dem Nationalistischen gerade auftut, offenzuhalten. Das geht vor allem dadurch, daß wir auf allen Ebenen versuchen, den gegenwärtigen Prozeß an Abrüstung zu koppeln und daß wir den Raum freihalten helfen für eine eigenständige Entwicklung der DDR. Wir wissen nämlich nicht, wo der Prozeß dort enden wird, auch ökonomisch nicht. Die soziale Marktwirtschaft muß ja nicht die zu sich selbst gelangende Uridee der Geschichte sein, wie Udo Knapp meint. Wir werden die Konservativen bei ihrer lang behaupteten nationalen Verantwortung packen. Wir müssen jetzt schnell sein, damit die DDR langsamer als in den letzten Wochen sein kann. Nur ein humanes Tempo bietet die Chance für politische Entscheidungen über die Zukunft. Sonst läuft an dem Willen der Menschen vorbei ein Wiederaufbauprogramm ohne menschlichen Sinn und ökologischen Verstand ab.
5. Die Rechten haben schon gemerkt, daß sie ihre Wiedervereinigung nicht schnell mittels nationalistischer Aufwallung bekommen werden. Dafür steckt auch die Friedensbewegung hier noch zu tief in den Menschen. Jetzt werden sie die Vereinnahmung über den Umweg der ökonomischen Invasion suchen, an deren Ende erst die Wiedereinigung steht. Dieser Umweg, den sie gehen müssen, ist unsere Chance. Dafür brauchen wir viel Kraft, neue Ideen und konkrete Konzepte. Den Freiraum hier nutzen, um den Freiraum dort zu bewahren!
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