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Der Mauerriß wirft neue Fragen auf

■ Berlin beherrschendes Thema der internationalen Presse / Rechtsradikale Zusammenschlüsse zwischen Ost und West? / Bündnissysteme geraten ins Wanken / Genscher betont Westbindung

Berlin (afp/ap/dpa/taz) - Weiterhin ist die Öffnung der Mauer ein zentrales Thema der internationalen Medien und Politik. Auf den ersten Jubel über den überraschenden Mauerriß sind inzwischen neue politische Vorschläge aus Ost und West, aber auch kritische Töne über eine deutsche Wiedervereinigung gefolgt. In den polnischen Kommentaren klingt neben der Freude über die Gefahren Sorge für das Gleichgewicht in Europa mit.

Die Solidarnosc-Zeitung 'Gazeta Wyborcza‘ verwies am Montag darauf, daß die Ereignisse in der DDR wahrscheinlich nicht möglich gewesen wären, wenn Polen nicht gezeigt hätte, daß radikale innenpolitische Änderungen möglich sind, ohne das außenpolitische Gleichgewicht zu stören. Das kommunistische Parteiorgan 'Trybuna Ludu‘ überlegte, ob die Öffnung der Grenze nicht das europäische Gleichgewicht durcheinanderzubringen droht. Die größte Sorge in diesem Zusammenhang gilt der polnischen Westgrenze.

Auch für die EG ist die Wiedervereinigung ein schwieriges Thema. Die Rede ist von einer Neubewertung der militärischen und wirtschaftlichen Bündnisse nach den spektakulären Ereignissen in der DDR. Gestern sprachen in Brüssel die Außenminister des Verteidigungsbündnisses der Westeuropäischen Union (WEU) über die künftige Rollenverteilung zwischen WEU, Nato und EG. Genscher lieferte ein Bekenntnis der Bundesrepublik zu ihrer Westbindung.

In Frankreich zeigt eine Meinungsumfrage, daß 60 Prozent der Franzosen die Wiedervereinigung für „eine gute Sache“ halten, aber bei Politikern und Kommentatoren wächst die Skepsis. Die deutsche Politik dürfe nicht zur Schaffung eines Staates führen, „dessen Gewicht sich unverträglich zu unseren Institutionen verhält“, erklärte Expräsident Giscard D'Estaing.

Von einer beschleunigten EG-Integration sprach gestern auch der französische Staatspräsident Mitterrand. Als ein nicht auf der Tagesordnung stehendes Thema bezeichnet die britische Regierung die deutsche Wiedervereinigung.

Politische Beobachter vermuten jedoch, daß Thatcher bei dem bevorstehenden EG-Gipfel gegen alle Beschlüsse zur Verwirklichung einer Wirtschafts- und Währungsunion opponieren und das mit den Entwicklungen in Osteuropa begründen wird.

Eine gefährliche Entwicklung machte der Korrespondent der israelischen Zeitung 'Davar‘ aus. Er berichtete von einer Annäherung West- und Ostberliner Nazis, die von den „Republikanern“ unterstützt würde. In Ostberlin sollen „gesamtdeutsche“ Rechtsradikalengruppen gesoffen und das Horst-Wessel-Lied gesungen haben.

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