piwik no script img

Volkskammer übt parlamentarische Demokratie

■ DDR-Abgeordnete wählen in geheimer Abstimmung den Vorsitzenden der Bauernpartei, Maleuda, zum Parlamentspräsidenten / LDPD-Chef Gerlach durchgefallen / Offene Aussprache unter den Parlamentariern / SED-Vertreter will Verfassung ändern

Berlin (taz) - Überraschend hat die Volkskammer der DDR gestern den Vorsitzenden der Demokratischen Bauernpartei, Günter Maleuda, zum Nachfolger Horst Sindermanns als Parlamentspräsidenten gewählt. Der eigentliche Favorit, der LDPD-Vorsitzende Manfred Gerlach, scheiterte in der Stichwahl mit 230 gegen 246 Stimmen. Der „staatlich geprüfte“ Landwirt und promovierte Agrarwissenschaftler Maleuda führt seit 1987 die DBD.

Manfred Gerlach war als erster von seiner Partei für das Amt ins Spiel gebracht worden. Da sich Gerlach in den letzten Wochen als entschiedenster Reformer innerhalb des etablierten Parteienspektrums profilieren konnte, war seine Wahl, als weiteres Zeichen, der Erneuerung prognostiziert worden. Daß der weitgehend unbekannte Maleuda das Rennen machte, ist wohl auf die SED-Dominanz in der Volkskammer zurückzuführen. Gerlachs Profilierung als wendiger Reformer dürfte in den Reihen der SED-, FDGB,- und FDJ-Fraktion für genügend Unmut gesorgt haben, um am Ende Maleuda zu favorisieren. Die SED, die bereits den Staatsratsvorsitzenden und den Regierungschef stellt, hatte für die erste geheime Wahl in der Geschichte des DDR -Parlamentes keinen Kandidaten nominiert. Die SED verfügt in der Volkskammer über 127 Sitze, die vier Blockparteien über je 52. Da die Massenorganisationen weitere 165 Abgeordnete in fünf Fraktionen stellen, die mehrheitlich SED-Mitglieder sind, ist die Dominanz der Partei in der Volkskammer noch immer gesichert.

Nicht nur mit der geheimen Wahl ihres Vorsitzenden probte die Volkskammer demokratisch-parlamentarische Gepflogenheiten. Im Anschluß an die Wahl folgte die erste Parlamentsaussprache seit der Wende. Die Vertreter aller Parteien äußerten zum Teil massive Kritik an der bisherigen politischen Praxis. Dem Parlament und der Regierung seien ihre verfassungsmäßigen Kompetenzen durch die Herrschaft der Partei beschnitten worden. Alle Redner verpflichteten sich auf den Reformgrundsatz der konsequenten Trennung von Staat und Partei. Auch der SED-Vertreter betonte erstmals die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung, ohne dabei den umstrittensten Paragraphen 1 zu benennen, der den Führungsanspruch der SED festschreibt. Noch im Aktionsprogrammm des ZK war von Verfassungsänderung nicht die Rede. Doch alle Redner der anderen Blockparteien ließen keinen Zweifel daran, daß sie die weitere Festschreibung der SED-Dominaz nicht mehr hinnehmen werden. Der Vertreter der NDPD, Günter Hartmann, ging sogar soweit, bereits vor der Verfassungsänderung festzulegen, daß aus Paragraph 1 keine rechtlichen Verbindlichkeiten abgeleitet werden können.

Alle Parteien sprachen sich für eine sozialistische DDR aus. Auch der SED-Vertreter würdigte die Rolle der Bürgerbewegung in den letzten Wochen und erwähnte in diesem Zusammenhang ausdrücklich das Neue Forum. Jetzt sei es Zeit, aufeinander zuzugehen. Damit spielte er auf die bevorstehende Anerkennung der Bürgerinitiative an. Neben einem neuen Vereinigungsgesetz wurden von allen Parteien weitere dringende Gesetzesreformen angemahnt. Ein neues Versammlungsgesetz, ein Mediengesetz, die Überarbeitung der Staatsverbrechensparagraphen. Damit griff das Parlament diejenigen Vorhaben auf, die schon im Aktionsprogramm benannt wurden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen