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UMGEKEHRTER FILBINGER

■ Herward Beschorner, ein Deserteur des Zweiten Weltkriegs, erzählt

Herward Beschorner (70), geboren in Moabit, desertierte 1944 aus dem deutschbesetzten norditalienischen Este, Provinz Padua. Dort war er für die militärische Fernsprechvermittlung zuständig. Beschorner war in einer Einheit eingesetzt, die italienische „Freiwillige“ ausbildete und in den umliegenden italienischen Dörfern Razzien durchführte. Die männliche Bevölkerung wurde des Nachts aus den Häusern geholt, festgenommen und zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschickt. Dabei wurde Beschorner Zeuge von Mißhandlungen und Erschießungen, die der Hauptmann der Einheit durchführen ließ. Er floh und schlug sich über die norditalienische Grenze ins Grödnertal durch, wo er bis 1954 blieb. Seit 1955 lebt er wieder in Berlin.

taz: Wann und wie sind Sie desertiert?

Herward Beschorner:Das war im Oktober 1944. Da habe ich eine Razzia mitgemacht und war entsetzt. Dieses Entsetzen habe ich natürlich nicht nur für mich behalten. Ich habe geflucht, geschimpft, getobt. Das kam auch den Italienern im Ort irgendwie zu Ohren. Eines Nachmittags wurde ich von einem Pater auf der Straße angesprochen, der mich bat, in die Sakristei mitzukommen. Da fragte mich ein anderer Pater, ob ich den Italienern nicht helfen könne. Ich säße doch im Vorzimmer des Hauptmanns an der Fernsprechvermittlung. Ich war verwundert, was die Geistlichen alles wußten, aber ich ging auf die Bitte ein.

Was sollten Sie denn tun?

Ich hatte eine direkte Telefonleitung zur italienischen Vermittlung. Sie baten mich, dort dreimal anzuklingeln, wenn eine Razzia bevorstand. Anklingeln deshalb, weil direkt dort anzurufen zu gefährlich gewesen wäre.

Das haben Sie dann auch gemacht.

Ich habe nicht lange überlegt und habe ja gesagt, obwohl ich wußte, daß ich damit ein großes Risiko eingehe. Ich habe das dann drei, vier Wochen lang gemacht. Eines Tages hatte der Hauptmann, weil eine Razzia geplant war, alle deutschen und einige italienische Offiziere versammelt. Die standen im Vorzimmer, als ich wieder dreimal durchklingelte. Ein italienischer Offizier kam nah heran, beugte sich zu mir an den Telefonschrank herunter, als wolle er nur sehen, wie ich vermittle. Er flüsterte mir ins Ohr: „Freund, hau ab, der Sicherheitsdienst läßt dich beobachten“. Ich kriegte einen Riesenschreck. Als die alle raus waren, rief ich im Regimentsstab an, wo ein Major saß, den ich noch von Rußland her kannte. Der hatte einmal drei Jahre vorher in Smolensk zwei desertierten Polizisten weitergeholfen. Die waren weggelaufen, weil sie an Erschießungen teilnehmen mußten. Er steckte sie in Luftwaffenuniformen und schickte sie nach Belgien.

Und der half dann auch Ihnen weiter?

Ja. Er stellte mir einen Marschbefehl zum Regimentsstab aus, ich würde dort dringend gebraucht. Das Regiment lag nördlicher, und ich nutzte die Gelegenheit zu desertieren. Der Marschbefehl gab mir einen gewissen Vorsprung. Ich nahm nicht den Zug, wie das vorgeschrieben war, sondern fuhr per Anhalter, weil die SS die Züge kontrollierte. Ich kam bis Südtirol, da war Partisanengebiet, was für mich relativ sicher war.

Wie haben Sie die Todesangst ausgehalten?

Die Angst hat mir den Mut gegeben. Ich hatte ursprünglich nie daran gedacht, einmal zu desertieren.

Sind aus Ihrer Einheit noch andere Soldaten desertiert?

Das weiß ich nicht. Ich war der erste, was nach mir kam, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, daß die Verbrechen des Hauptmanns weitergingen. Er hat von einem Kirchturm aus auf spielende Kinder schießen lassen, hat unschuldige Bauern aufgehängt. In unserer Unterkunft in Este hat er 16 Mendschen erschossen. Insgesamt hat er 56 unschuldige Italiener ermordet. Er ist dafür niemals belangt worden.

Was denken Sie über die, die weiter mitgemacht haben?

Ich will keine Pauschalurteile fällen. Das ist schwer zu sagen. Es wird immer gesagt, der Krieg habe am 1.September 1939 begonnen. Ich würde sagen, er hat viel früher begonnen. Die Gehirne wurden militarisiert, die Gewissen teilweise außer Kraft gesetzt. Das Schlimme ist, daß viele der Gehirngeschädigten, die den Krieg mitgemacht haben, zum Teil genauso blöd aus den Krieg herausgekommen sind, wie sie reingegangen sind. Die behaupten, sie hätten für Deutschland gekämpft. Das stimmt nicht. Sie haben nicht begriffen, daß sie sich auf einen Verbrecher vereidigen ließen. Deshalb dürften Deserteure heute nicht diffamiert werden, wie das immer noch der Fall ist. Sie müßten geehrt werden. Trotzdem werden die Deserteure heute noch von alten Kommißköppen diffamiert, wie Verbrecher behandelt. Sogar mit Wohlwollen der Bundesregierung.

Deserteure werden immer noch als Feiglinge behandelt.

Ich meine, zum Desertieren gehörte mehr Mut, als ohne Rückgrat mit den Mördern mitzumachen. Deserteure waren keine Feiglinge. Deserteure waren auch Widerstandskämpfer, denn sie haben den Krieg verkürzt. Selbst wenn ein Deserteur nicht das Bewußtsein hatte, Deserteur zu sein, war er's doch objektiv. Manche sind aus Heimweh, manche aus Liebe oder aus Angst, aus den lächerlichsten Gründen abgehauen. Aber jeder Grund war triftiger als mitzumorden. Deserteure haben von ihrem Recht auf Kriegsdienstverweigerung Gebrauch gemacht, das heute grundgesetzlich festgeschrieben ist. Was heute gilt, kann damals nicht falsch gewesen sein. Das ist die Umkehrung des Ausspruches von Exmarinerichter Filbinger: „Was damals recht war, kann heute nicht Unrecht sein“.

Wie haben Sie die Wiederbewaffnungsdebatte Mitte der fünfziger Jahre mitbekommen?

Die war zum Kotzen. Schon zweimal ging von diesem Land ein Weltkrieg aus. Damals habe ich mich aber noch nicht engagiert, denn ich hatte das Gefühl, ich hätte mich nervlich kaputtgemacht, das ging gegen Windmühlenflügel. Für mich war das alles noch zu frisch.

Glauben Sie, daß die Bundeswehr, beim jetzigen radikalen Verfall von Feindbildern, irgendwann ihre Legitimation verliert und abgeschafft wird?

Ich hoffe es, aber ich glaube nicht daran. Denn Dummheit kann man nicht abschaffen, die wird's ewig geben. Leider.

Interview: kotte

Über seine Desertion hat Beschorner, der seit seiner Pensionierung freier Schriftsteller ist, eine kleine autobiographische Erzählung verfaßt. „Centralino - 3 mal klingeln. Ein Deserteur erzählt“ ist als Taschenbuch im Röderberg Verlag erschienen.

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