: Das Ende der Wahrheit
■ Dokumentarfilm in der Postmoderne: ein Referat des Filmemachers auf dem Marburger Symposium „Der Dokumentarfilm im Fernsehen der Bundesrepublik“. Pünktlich zum Duisburger Dokumentarfilmfestival hier eine gekürzte Fassung.+ZD+8.e
Peter Krieg
Wir erleben heute einen gewaltigen Umbruch unserer Wahrnehmungen, der von den Wissenschaften ausgehend langsam die Alltagswahrnehmung zu erreichen scheint. Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß in den letzten hundert Jahren eine beispiellose Evolution der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit stattgefunden hat. Von den kleinsten subatomaren Materiebausteinen bis zu den entferntesten Galaxien des Universums reicht allein unsere Sehkraft dank der in wenigen Jahrzehnten entwickelten Techniken. Unsere fünf Sinne wurden mit Hilfe dieser Technik in einem Maße verbessert, wie es kein anderes Lebewesen des Planeten selbst auf seinem jeweiligen Spezialgebiet erreicht. Ähnlich potenzierten sich unsere Kräfte, unsere Schnelligkeit, unsere künstlichen Gedächtnisspeicher und Elektronen -„Gehirne“. Mit diesen neuen Werkzeugen der Wahrnehmung wuchs im gleichen Maßstab die Komplexität des Wahrgenommenen.
Was wir hinter uns lassen, ist, gerade weil es hinter uns liegt, ein gesichertes, also übersichtliches Bild von Realität. Die Moderne hatte der Geschichte einen „Sinn“ verpaßt, ihr sogar eherne Gesetze verliehen, sie teilte die Welt sauber in Gute und Böse auf. Da wußte jeder, woran er war, wohin die Reise ging, was zu tun oder zu lassen war...
Kurz, es gab ein zwar mysteriöses, nebelhaftes, aber doch bei aller Auseinandersetzung darüber grundsätzlich niemals ernsthaft bezweifelbares Gemeinsames - die Wahrheit.
Alle suchten sie, viele glaubten sie gefunden zu haben. In ihrem Namen schlugen wir uns die Köpfe ein, in ihrem Namen wird bis heute eingesperrt, gefoltert und gemordet. Dem Prinzip Wahrheit wurden wir alle verpflichtet - von biblischen Zeiten bis zum Pressekodex der Bundesrepublik, dessen Paragraph 1 lautet: „Achtung vor der Wahrheit und wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberstes Gebot der Presse.“ Noch heute ist also die Vorstellung, es gäbe eine allgemein gültige Wahrheit, gerade bei Journalisten und Dokumentaristen ganz besonders verbreitet. Wir suchen meist noch immer nach der real story, wir wollen zeigen, wie es „wirklich“ ist und war, und im Dokumentarfilm erleben wir „die reine Wirklichkeit“, wie in einem typischen Zeitungsbericht über die letztjährige Duisburger Dokumentarfilmwoche geschlagzeilt wurde. Die Geschichte des Dokumentarfilms ist eine Geschichte der Suche nach Wahrheit und Realität. Der Dokumentarist sah sich selbst dabei - bis heute - in einer Mittlerrolle zwischen Realität und Menschheit; ganz wie sich die Kirche in einer Mittlerrolle zwischen Menschheit und Gott sieht. Auch das cinema verite ist im Grunde ein rein theologisches Genre...
Leider gibt es noch keine Geschichte der Wahrnehmung, aber allein in der Filmgeschichte kann man deutliche Phasen einer solchen Geschichte erkennen. In der Frühphase des Kinos bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wird gesellschaftliche Realität vor allem in Europa zentral „inszeniert“. Die Medien sind deshalb staatlich oder streng durch den Staat kontrolliert und zensiert. Der Staat bestimmt das Programm des Rundfunks. Der Dokumentarfilm arbeitete ebenfalls mit stark inszenierenden Mitteln (beispielsweise Flaherty, Grierson, Ivens). In der „Demokratisierungsphase“ nach dem Zweiten Weltkrieg dezentralisiert sich die kollektive Realitätsbildung immer mehr, und auch im Dokumentarfilm geraten die Inszenierungen in Vedacht. Das direct cinema oder cinema verite propagiert die Beobachtung ohne Eingriff, eine neue Art der Inszenierung, die versucht, ihre eigenen Spuren zu verwischen. Das Fernsehprogramm gibt nach und nach die Idee des nationalen Diskurses des Einheitsprogramms auf und wird dezentralisiert. Das privatisierte Fernsehen mit seinen zahllosen Kanälen markiert das Ende des „Programms“ und damit der zentralistischen Realitäts-„Verwaltung“. Der Fernsehzuschauer macht sich jetzt mit Hilfe seiner Fernbedienung das eigene Programm. Auch der Dokumentarfilm beginnt mit zunehmender Subjektivierung auf die sich verändernde Wahrnehmung zu reagieren. Der Dokumentarist gerät nicht mehr nur als „neutraler“ („objektiver“) Beobachter ins Bild, sondern als selbst „Betroffener“, als Teil des beobachteten Systems.
Das Selbstverständnis der Fernsehmacher und Dokumentaristen (wie der meisten Journalisten), sie „vermittelten“ die Realität (an die Öffentlichkeit), erscheint als folgenschwerer Irrtum, der uns daran hindert, in einer Welt der schwindenden Grenzen andere Realitäten und damit Wahrheiten auszuhalten. Jede Grenze ist ja auch eine Grenze zwischen kollektiv konstruierten Wahrheiten. Allerdings enthebt uns die Erkenntnis der Relativität der Wahrheiten nicht von der Notwendigkeit, in jedem Augenblick Entscheidungen darüber treffen zu müssen, was wir für wünschenswert halten und was nicht. Aber wir (also auch die Journalisten und die Dokumentaristen) werden uns nicht mehr darauf berufen können, im Namen anderer oder gar im Namen „der Wahrheit“ zu sprechen. Auch der Dokumentarist, der ja gerne damit kokettiert, er spreche für andere (zum Beispiel für „die Sprachlosen“), spricht natürlich letztlich nur für sich selbst. Das, was er für die Realität oder die Wahrheit ausgibt, ist jeweils nur seine eigene, und es ist allein Sache der Zuschauer zu entscheiden, ob sie sich seiner Konstruktion anschließen oder nicht.
Die cineastische Zäsur zwischen Moderne und Postmoderne markiert Kurosawas Rashomon, eine bisher sicher unübertroffene Abrechnung mit cinema verite im weitesten Sinne. Auch wir müssen uns wohl eingestehen, daß Dokumentarfilm im Grunde genausoviel und genausowenig mit Wahrheit oder Realität zu tun hat wie jedes andere Medium sei es nun die abstrakte Malerei, der Experimentalfilm oder der Science-fiction-Roman. Denn über Realismus kann immer nur jeder einzelne Zuschauer, Betrachter oder Leser für sich alleine entscheiden. Natürlich gibt es in jeder Gruppe oder Gesellschaft mehr oder weniger strikte kollektive Vereinbarungen darüber, was als real oder nicht zu gelten hat, was für wahr oder unwahr zu nehmen ist, aber diese Vereinbarungen sind eben rein historische und mehr oder weniger willkürliche Fiktionen, mit deren Hilfe sich die entsprechenden Gruppen konstituieren und bestätigen. Der Dokumentarist wird zwar wie jedes Mitglied der betreffenden Gruppe oder Gesellschaft diese Fiktionen mehr oder weniger teilen, aber er wird wohl ebenso wie wir alle lernen müssen, sie als Fiktionen zu erkennen und entsprechend zu relativieren. Es heißt Abschied von der Wahrheit zu nehmen.
Mit der Veränderung des Realitätsbegriffs ganz eng verwoben ist die Entwicklung des Mediums Fernsehen zur neuen Heimat des Dokumentarfilms. Die Fernsehkamera ist heute allgegenwärtig und wir sehen live Bilder vom Massaker in Peking ebenso wie von der Geiselnahme in Gladbeck, vom Bankraub in Chicago oder von den Wahlen in Wladiwostok. Diese Bilder sind erst einmal lediglich „Karten“ (im Sinne Heinz von Foersters), Rückkopplungen nicht etwa von globalen Ereignissen, sondern von Bildern von Ereignissen. Es sind Dokumente, keineswegs Wahrheiten oder gar Realität. (Die konstruieren wir uns dann mit Hilfe dieser Bilder im Kopf.) Das Erdbeben von San Francisco wird erst dann für mich zu einem Ereignis, wenn ich es wahrnehme. Die Realität dieses Ereignisses entsteht keineswegs in San Francisco, auch nicht auf dem Fernsehschirm, sondern nur in meinem Kopf. Mein Kopf aber zieht für seine Konstruktion „Erdbeben in San Francisco“ unzählige Informationen und Erfahrungen hinzu. Wenn ich zum Beispiel weiß, daß mein Bruder in San Francisco lebt, dann entsteht schon allein aus dieser einen, für mich typischen Teilinformation eine ganz andere Realität des Erdbebens als für jemanden, der noch nie in San Francisco war und dort auch niemanden kennt.
Der Dokumentarfilm, jetzt einmal als Genre betrachtet, das sich von den Nachrichten unterscheidet, wird von dieser Entwicklung keineswegs bedroht, wie ich meine. Unter der Flut dieser Bilder bilden sich neue Bedürfnisse beim Zuschauer heraus: Wie können wir diese Bilder einordnen, gibt es Zusammenhänge, was verändert sich für mich durch die Wahl in Wladiwostok oder das Massaker in Peking? Der aktuellste Ausdruck dieses Bedürfnisses nach Interpretation und Strukturierung sind die vielen politischen Talk-Shows, die plötzlich aus allen Kanälen sprießen. Auch hier wird im Grunde in Ergänzung der Nachrichten das gemacht, was ganz früher der Dokumentarfilm in einem leisten mußte: Information und Vermittlung individueller zu kollektiver Realität. Aber heute geschieht dieser soziale Prozeß immer weniger als objektive, verbindliche und unteilbare Wahrheitsverkündigung, sondern als unverbindliches Angebot von Interpretation, von Sinn, durchaus widersprüchlich und relativiert. Auch hier sehe ich die Unverbindlichkeit als Gewinn an, als Fortschritt in einem evolutionären Prozeß hin zu einer zunehmenden Individuation des Menschen.
Das „Authentische“, das Echtheitszertifikat der Beobachtung, ist ein weiterer Mythos des Dokumentarischen, den es zu Grabe zu tragen gilt. Vielleicht werden wir überhaupt von unseren vertrauten linearen und kausalen Weltbildern Abschied nehmen müssen, wenn wir die komplexen und nichtlinearen Systeme, die wir offensichtlich sind, die uns umgeben und die wir heute in immer größerer Komplexität auch wahrnehmen können, sinnvoll beschreiben wollen. Jean Piaget erwähnt als Beispiel, wie wir unsere ersten kausalen Weltbilder konstruieren, das Kind, das sich an der Tür wehtut und daraufhin die Tür schlägt mit den Worten: Du böse Tür! Der Dokumentarfilm von heute hat noch viel von diesem kindlichen Weltbild, wie ja auch die Politik oder unsere Alltagswahrnehmung davon geprägt sind. Wir leben heute aber in einer Welt, in der nicht nur die Wahrnehmung immer komplexer wird, sondern auch unsere Umwelt und, bedingt durch diese beiden, auch wir selbst. Die Konstruktion kausaler Weltbilder dient letztlich der Erschaffung einer stabilen Umwelt, in der aus den Erfahrungen der Vergangenheit einigermaßen verläßliche Erwartungen für die Zukunft abgeleitet werden können, um eine Orientierung für das Handeln in der Gegenwart zu erhalten. Allerdings stellt sich im Laufe des Lebens dann schnell heraus, daß die Welt durchaus nicht linear mechanisch abläuft - was wir im Alltag durch Weisheiten wie „Der Mensch denkt, Gott lenkt“ oder mit Wilhelm Buschs „Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt“ auszudrücken pflegen. Schlimmer noch: Je komplexer unsere sozialen Systeme sich entwickeln, desto mehr entpuppen sie sich als selbstgesteuert und desto weniger als zentral steuer- und kontrollierbar. Nicht einmal durch Abkopplung von außen lassen sich heute etwa politische Systeme steuern, wie das Beispiel der DDR und des ganzen „real“ existierenden Sozialismus zeigt (der sich wohl deshalb real nannte, weil er irrigerweise glaubte, die Realitätswahrnehmung seiner Bürger steuern zu können). Jetzt stellt sich heraus, daß ausgerechnet die in der sozialistischen Staatswahrheit von Kindesbeinen an Erzogenen die Ersten sind, die ihr den Rücken kehren. Der Mensch ist trotz aller Bemühungen nicht zum zuverlässigen linearen System (oder zur von Foersterschen „trivialen Maschine“) erziehbar („er fällt einem immer wieder zurück“, erkannte auch Bert Brecht, der ja bekanntlich viel auf die Erziehbarkeit des Menschen gab).
Auch das Fernsehen in diesem Land glaubt ja immer noch eine solche Erziehungsaufgabe erfüllen zu müssen. Doch eine verbindliche Wahrnehmung als Voraussetzung der Konzepte von Wahrheit und Realität läßt sich heute eben nicht mehr vor oder festschreiben, auch nicht mehr in der DDR oder in China. Daß dies so zu sein scheint, ist nicht zuletzt ein Nebenprodukt der Medien, die eine weltumspannende Wahrnehmung und Kommunikation darüber über alle Wahrheitsgrenzen hinweg ermöglicht haben.
Das alles bedeutet also keineswegs das Ende des Dokumentarfilms. Ganz im Gegenteil. Wenn sich die Dokumentaristen von ihrer alten, immer konservativer werdenden Rolle verabschieden können, dann können sie ein ganz neues Universum der Komplexität entdecken beziehungsweise erfinden; und damit auch einen ganz neuen Dokumentarfilm. Es ist eben nicht so, daß alle wichtigen Fragen gestellt oder alle Probleme analysiert wären. Man könnte ja auch fragen, wenn so viele zentrale Probleme immer noch ungelöst sind, ob nicht vielleicht auf der Grundlage einer neuen Wahrnehmung neue Fragen gestellt, alte Fragen anders gestellt und neue Analysen versucht werden können? Wir können heute zum Beispiel mit Hilfe von Computern erstmals auch nichtlineare Prozesse simulieren. In einer solchen berühmt gewordenen Simulation fand man heraus, daß der Bau von billigen, öffentlich finanzierten Wohnungen in Slums keineswegs das erwartete, lineare Ergebnis hat, daß sich die Lebensqualität im Slum verbessert, sondern daß genau das Gegenteil eintritt, das Verslumen nämlich zunimmt. Vielleicht ist unser althergebrachter Glaube in die lineare Kausalität der Dinge und Verhältnisse eben nur ein althergebrachter Aberglaube. Wir sind selbst als Journalisten und Dokumentaristen - oder vielleicht gerade als solche - allzu anfällig für solche kausalen Weltbilder. Wir suchen permanent nach Schuldigen und Verursachern, nach Ursachen und letzten Gründen, eine Suche, die eben bereits die Parameter unserer Wahrnehmung so eng festlegen, daß wir alles, was außerhalb dieser Parameter liegt, gar nicht wahrnehmen können. Vielleicht war eine wichtige Motivation für viele von uns, diesen Beruf zu ergreifen, das allzu kindliche Wunschdenken, Gerechtigkeit durch Erziehung und Aufklärung herstellen zu können nach dem Motto: Die Wahrheit wird euch freimachen! Was aber, wenn nun die Vorstellung der Wahrheit die Grundvoraussetzung der Unfreiheit wäre?
Die Zukunft des Dokumentarfilms wird letztlich also davon abhängen, ob wir Dokumentaristen neue gesellschaftliche Wahrnehmungen aufnehmen und so wieder neue Fragen stellen und neue Antworten er-finden können. Allerdings fürchte ich, daß Max Plancks Satz, daß neue wissenschaftliche Ideen sich erst dann durchsetzen, wenn die Vertreter der alten ausgestorben sind, auch auf unsere Branche zutrifft. Für die meisten Dokumentaristen meiner Generation ist „Postmoderne“ heute noch ein Schimpfwort. Eine neue Wahrnehmung wird wohl vor allem auch von einer neuen Generation von Dokumentaristen kommen müssen, die sich leichter vom Wahrheits- und Realitätsdogmatismus meiner Generation lösen kann, vielleicht gerade weil sie ihm - hierin ganz ähnlich der DDR-Jugend - von Kind an ausgesetzt war.
Aus dieser Generation wird sich wohl auch das neue Publikum eines postmodernen Dokumentarfilms rekrutieren, das neue Erkenntnisse vom Dokumentarfilm erwartet und nicht moralische Belehrungen oder ideologische Begradigungen. Nicht daß dafür heute noch viel Interesse bestünde, aber leider ist die Erwartungshaltung des Publikums dem Dokumentarfilm gegenüber immer noch davon geprägt.
Das ungekürzte Referat erscheint demnächst in einem Sammelband des Marburger Symposiums in der Reihe „Aufblende“ im Hitzeroth-Verlag, Marburg.
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