Das große Tröpfeln

■ VI. Europäisches Kurzfilmfestival letzte Woche in West-Berlin

Viel Wasser plätscherte durch die fünfundsiebzig Filme aus zweiundzwanzig Ländern. Auf den Leinwänden der drei Wettbewerbskinos landeten Regentropfen in Pfützen und schlugen gegen Fensterscheiben, plantschte es in Waschbecken und Badewannen, sprudelten Bäche und wogte zu Möwengekreisch viel Meer. Immer, wenn die Präsentation einer ersten Idee für einen Plot alleiniger Produktionszweck eines Filmes blieb, mußte Wasser herhalten, um dem Streifen wenigstens den Anschein von Bedeutung zu verleihen.

Zum Beispiel Michael Glawoggers Spielfilm Die Stadt der anderen, der einzige österreichische Beitrag. Zwei Frauen in zwei verschiedenen Städten; ihre Jobs sind langweilig, ihre Männer auch. Sie machen sich auf, die eine fährt in die Stadt der anderen. Was der Film dreißig Minuten lang nicht schafft, nämlich die Krise der Frauen und ihren Wunsch nach Veränderung herauszuarbeiten, muß das Wasser leisten. Die eine stürzt panisch eine Böschung hinunter ins Meer, nur um wie einst Xerxes enttäuscht auf es einzuschlagen - die einzige Szene, die ihre Gemütsverfassung ins Bild bringt. Später treffen sich die Frauen zufällig in einem malerischen Dorf - am Meer. Frauen klagen Frauen ihr Leid, wie es täglich geschieht. Aber das Meer, das sanft an die Promenade schlägt und die letzten mächtigen Strahlen des Abendrots zwischen die Frauen trägt, suggeriert, daß hier eine Begegnung der außergewöhnlichen Art stattfindet.

In vielen Filmen dient Wasser auch der Konstruktion gewollt komischer Pointen: Durchgedrehte Klempner streben ins Fallrohr einer Toilette, weil so schönes Meeresrauschen daraus erklingt. Geübter im Umgang mit dem nassen Element zeigen sich die polnischen Regisseure. Grzegors Krolikiewiczs Spielfilm Idz (Geh!) erzählt von dem langsamen Aufstieg eines Mannes und eines dünnen Pferdchens ins Hochgebirge. Ihr Weg führt durch Wälder und über Lichtungen und Geröllhalden. Als der Mann das Pferd erschießt, damit die Bären vor ihrem Winterschlaf noch einmal Nahrung erhalten, verschwinden die Berge in ewigem Nieselregen. Wechselnde Landschaft und unstetes Wetter sind hier vorsichtige Metaphern für Zuneigung, Vertrauen und Verrat, für die Möglichkeit der Wahl oder die Ergebenheit in scheinbare Notwendigkeiten.

Filmen aus Osteuropas galt die besondere Aufmerksamkeit der Sichtungskommission. In der „Woche des Kurzfilms“, eine Anregung des Festivals, wieder mehr Kurzfilme zu spielen, wurden in verschiedenen Berliner Programmkinos Filme aus sozialistischen Ländern im Vorprogramm gezeigt. Von der Möglichkeit des Genres Kurzfilm, schneller als große Produktionen auf poltitische Ereignisse und soziale Veränderungen zu reagieren, zeugten fast ausschließlich die Spiel- und Dokumentarfilme aus diesen Ländern. Sie gingen jedoch unter in der Masse bundesdeutscher Belanglosigkeiten, die gut ein Drittel der Wettbewerbsbeiträge ausmachten.

Unter denen fielen lediglich Animationsfilme aus dem Rahmen, wie Raimund Krummes Zuschauer, der knapp umrissene Strichmännchen in Massenhypnose durch ein Kino strudeln läßt. Zuschauer lief auch im Sonderprogramm „Projektionen“, durchgeführt vom SFB, der mit dem Wirtschaftsverband der Berliner Filmtheater, dem Senat und dem Innenministerium die Veranstaltung des Bundesverbandes der Filmproduzenten und der Freunde der Deutschen Kinemathek unterstützte. Alljährlich werden vom SFB aus etwa 250 Einsendungen zehn bis zwölf Einzelbeiträge ausgewählt und in einer Sonderreihe ausgestrahlt. Hier fanden sich die wenigen bundesdeutschen Spielfilme, die zumindest eine nette Idee in runder Ausführung präsentierten. Clemens Füsers Chicago 6*6 handelt von grotesken Erlebnissen von einem, der nach Chicago auszog, das Boxen zu lernen. Füser ließ die klassisch amerikanische Geschichte von Gangstern, Sportlern und schönen Frauen einfach in Berlin spielen.

Aber auch vor den „Projektionen“ machte das Wasser nicht halt. Da entsteigt eine junge Taucherin der Ägäis, sieht eine Möwe, einen Hund und ein planlos herumstolperndes Pferd. Und schließlich einen Mann, der behauptet, Poseidon zu sein, und, um dies zu beweisen, aus griechischen Sagen zitiert. Dann ist er wieder verschwunden, und die Taucherin starrt in die nahende Flut. Schauspielerin und Regisseurin Antonia Lerch, eine der wenigen Frauen die an dem Festival teilnahmen, konnte leider nicht erklären, was sie sich dabei gedacht hat. Das traditionelle Gespräch mit den FilmemacherInnen nach der „Projektionen„-Vorführung fiel im grenzenlosen Trubel des Wochenendes aus.

Völlig unbeeindruckt von der allgemeinen Wassermanie zeigte sich die Jury unter Vorsitz des Regisseurs und Journalisten Erwin Leiser. Kurz und schmerzlos ging am Sonntag abend die Preisverleihung über die Bühne. Den „Preis für besondere Leistung“, Ankauf des Filmes durch den SFB, erhielt Alexej Prasdnikov für sein musikalisches Porträt des Komponisten Boris Arapov. Fotos aus den Lebensstationen des ältesten Komponisten Leningrads reihen sich, passend zur Musik Arapovs, an Stadtansichten aus Gegenwart und Vergangenheit. Als bester Spielfilm wurde Ce qui me meut aus Frankreich ausgezeichnet. In einer Mischung aus Spiel- und Dokumentarfilmen zeichnet Cedric Klapisch mit nachgestellten Archivaufnahmen das Leben des Chronophotographenerfinders Marey nach: eine Persiflage auf populärwissenschaftliche Filme. Und Animator Franz Wintzensen gewann mit seiner Königin des schwarzen Marktes ein neues Kopierwerk; der Film erzählt von einer Frau, die in der Nachkriegszeit mit fliegenden Kaffeekannen dealte.

Die Welt bewegen werden die drei prämierten Filme bestimmt nicht. Sie wagen nichts. Sie zeigen aber, daß ein guter Kurzfilm aus der Konzentration auf ein konkretes Thema entsteht. Das war für das sechste Kurzfilmfestival schon eine ganze Menge.

Claudia Wahjudi