: DDR in der Braunkohle Weltspitze
Aber auch Tonnenideologen können sich nicht darüber freuen / Verheerende Folgen für die Volkswirtschaft und das ganze Land / Erbe des Wirtschaftssekretärs Mittag / Weitere Kraftakte immer aussichtsloser ■ Von Steffen Uhlmann
Auch Rekordzahlen können bisweilen Beklemmung auslösen. Als sich führende Wissenschaftler der DDR nach der Öffnung in den Medien auch mit der kritischen Energiesituation des Landes auseinandersetzten, waren viele Leser überrascht, daß die DDR im Pro-Kopf-Verbrauch von Energie nach Kanada und den USA an dritter Stelle in der Welt steht. Statt Euphorie machte sich in den Leserzuschriften vor allem Nachdenklichkeit breit, und überall tauchte die Frage auf, warum verbrauchen wir so viel Energie?
Die Gründe dafür sind vielfältig. Letztlich aber lassen sie sich auf die Vision der „autarken Insel DDR“ zurückführen, die der ehemalige SED-Wirtschaftssekretär Günter Mittag dem „zweiten“ deutschen Staat verordnet hatte.
Als die DDR gegen Ende der siebziger Jahre die gestiegenen Erdölrechnungen von der Sowjetunion präsentiert bekam und auch die anderen Rohstoffpreise geradezu explodierten, ordnete Mittag eine radikale Kehrtwendung an. Statt allmählichen Verbrauchsabbau der einheimischen Braunkohle zugunsten des importierten Erdöls beziehungsweise Erdgases wurde fortan fast ausschließlich auf den scheinbar unbegrenzt vorhandenen heimischen Brennstoff gesetzt. In den darauffolgenden Jahren war ein wirtschaftlicher Kraftakt sondersgleich angesagt. Geradezu kampagnenmäßig (die DDR -Entwicklung ist eine Geschichte voller Kampagnen) wurde binnen weniger Jahre ein Programm durchgesetzt, das zeitweilig bis zu 60 Prozent aller verfügbaren Investitionen in Anspruch nahm.
Mit den Mitteln wurden neue Heizhäuser, Feuerungsanlagen, Energieausrüstungen und Schornsteine gebaut und in Betrieb genommen. Im Gegenzug legte man neu errichtete Anlagen, die auf der Basis von Öl und Gas arbeiteten, wieder still. Zehntausende Heizer mußten umgeschult werden, ihre Arbeitsbedingungen verschlechterten sich rapide, die Umweltbelastungen stiegen in ungeahnte Höhen.
Der größte Teil des Geldes floß freilich in die Braunkohlengewinnung selbst. Durch den Aufschluß neuer Tagebau-Areale und den Einsatz moderner Großgeräte wurde die Braunkohlenförderung auf 320 Millionen Tonnen jährlich hochgefahren. Damit ist die DDR einsamer Spitzenreiter in der Welt. Doch nicht einmal mehr ein Tonnenideologe feiert heute diese Entwicklung, denn die Vision der Insel hat heute verheerende Folgen für die Volkswirtschaft und das ganze Land.
Mehr als 80 Prozent ihrer Energie gewinnt die DDR nun aus der Braunkohle. Etwa zwölf Prozent des Bedarfs sichern Atomkraftwerke. Nur zu welchem Preis? Noch immer frißt die Kohle und Energiewirtschaft Jahr für Jahr etwa zwölf Milliarden Mark an Investitionen. Das entspricht den Aufwendungen für die Zweige Elektrotechnik/Elektronik, Schwermaschinen- und Anlagenbau, Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinebau sowie Leichtindustrie. Bei ihnen handelt es sich immerhin um strukturbestimmende Zweige der DDR-Volkswirtschaft, von der ihre Leistungsentwicklung wesentlich abhängt.
Um diese unbedingt notwendigen 320 Millionen Tonnen Kohle pro Jahr fördern zu können, müssen täglich mehr als vier Millionen Tonnen Abraum beiseite geschafft und eine Million Tonnen Kohle geborgen werden. In den Hauptfördergebieten (Bezirke Cottbus, Dresden, Halle, Leipzig) frißt ein Großtagebau jährlich etwa 40 Quadratkilometer Land. 36 Tagebaugruben unterschiedlicher Größe gibt es gegenwärtig. Einige laufen aus, neue kommen hinzu. Jahr für Jahr verschwinden darum Dörfer und Gemeinden von der Landkarte, müssen Tausende von Menschen der Kohle weichen, werden Felder und Forstflächen geopfert, entstehen riesige Gebiete unwirtlichen Landes. Ganz abgesehen von den sozialen Folgen für die Menschen, den harten Eingriffen in die Natur (die Rekultivierung hält längst nicht mehr Schritt) werden auch die wirtschaftlichen Ergebnisse immer zweifelhafter.
Die geologischen Bedingungen zur Erschließung der Kohle verschlechtern sich. Die nun geförderte Kohle hat einen immer geringeren Gebrauchswert. Ihr Salz- und Wassergehalt wächst, der Heizwert sinkt. Sie ist weit aggressiver und erhöht die Umweltbelastungen. Mit dem heutigen Wassergehalt von 58 Prozent wird jeder rentable Transport infrage gestellt. Zumal die Brikettier- und Kokereikapazitäten kaum nachkommen und die Kohle nun zum allergrößten Teil unverarbeitet zum Verbraucher gelangt.
Trotz oder gerade wegen der starken Konzentration auf die Braunkohle ist es der DDR nicht gelungen, sich vom Weltmarkt unabhängig zu machen. Statt mehr Erdöl und Erdgas für die Energieerzeugung muß der Staat nun Strom aus Österreich und der Bundesrepublik importieren. Heute verbraucht die DDR pro Kopf 30 Prozent mehr Energie als die Bundesrepublik. Spitze ist sie dabei auch im Verlust an Energie. Der mit hohem Aufwand in den Braunkohlenkraftwerken erzeugte Strom gelangt nur etwa zu 72 Prozent zum Anwender. 28 Prozent benötigt das Energiewesen selbst beziehungsweise gehen beim Transport verloren. Zum Vergleich: In der Bundesrepublik betrugen Eigenverbrauch und Transportverluste schon zu Beginn der achtziger Jahre nur etwa 19 Prozent.
Den hohen Verlusten steht ein wachsender Energiekonsum der Verbraucher in Industrie, Landwirtschaft und Haushalten entgegen. Die Bevölkerung hat dabei den größten Anstieg am Verbrauch zu verzeichnen - bis zu acht Prozent im Jahr. Dahinter verbirgt sich nicht nur wachsender Wohlstand, sondern vor allem eine stetig steigende Verschwendung von Energie. Bei einem subventionierten Strompreis von acht Pfennigen je Kilowasttstunde fehlt jeglicher Anreiz zur Sparsamkeit.
Der enorme Energiehunger der DDR-Bevölkerung geht dabei eindeutig zu Lasten der Industrie, weil sich die Kraftwerkskapazitäten in den letzten Jahren nicht wesentlich erhöht haben. So ist die Energielücke in den vergangenen Jahren weiter gewachsen. Das hat die Probleme der Wirtschaft weiter verschärft, da es auch an Geld und Investitionskraft für moderne Verfahren und Technologien beziehungsweise Ausrüstungen zur rationellen Energieanwendung fehlt. Überall besteht erheblicher Nachholbedarf, wie etwa bei der Wärmedämmung. Für die Heizung einer Wohnung muß in der DDR bis zu einem Viertel mehr an Energie aufgewendet werden als in der Bundesrepublik. Die weiteren Aussichten sind zumindest ungewiß. Das letzte neue Braunkohlenkraftwerk der DDR ging in diesem Jahr in Jänschwalde ans Netz. Ein weiterer Ausbau ist nicht geplant, weil schon die Kohlevorkommen das nicht zulassen.
Der GAU von Tschernobyl hat den weiteren Ausbau beziehungsweise Neubau von Kernkraftwerken (Greifswald, Stendal) verzögert. Die DDR setzt zwar weiterhin auf Kernkraft, muß aber nun höhere Sicherheitsbestimmungen einhalten und aufwendigere Baumaßnahmen durchführen. Das kostet Zeit und vor allem Geld, das eigentlich für den Umweltschutz und die rationelle Energieanwendung gebraucht wird. Allein die umfassende Rekonstruktion der veralteten Kraftwerke wird sich bis ins nächste Jahrtausend hinziehen. Noch immer „kippt“ die DDR jährlich fünf Millionen Tonnen Schwefeldioxid in die Luft, müssen das Land und die Anrainerstaaten knapp eine Million Tonnen Stickoxide verkraften. Auch damit ist man in Europa spitze.
Steffen Uhlmann war bis Januar 1989 Wirtschaftsredakteur bei der DDR-Zeitschrift 'Neue Berliner Illustrierte‘ und lebt heute in West-Berlin. Er beleuchtet für die taz in lockerer Folge Probleme und Chancen der DDR-Wirtschaft
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