: S I C H T V E R M E R K
■ Lila Pause im kalten Krieg
Das Haus am Checkpoint Charlie kann es nicht lassen. Im verzweifelten Kampf gegen die eigene Überflüssigkeit heiligen jetzt alle erdenklichen Mittel keinerlei Zweck mehr. So soll heute vormittag der Wahl-Kanadier Swami Vishnu Devananda, seines Zeichens Yogi, endlich seine große Friedensmission zu Ende bringen dürfen. Nachdem er bereits vor sechs Jahren mit einem Ultraleichtflugzeug die Mauer zwecks Blumenabwurf überwand (1970 schwirrte er im Bürgerkrieg über Nordirland, 1971 im Sechs-Tage-Krieg über dem Suez-Kanal), will er nun zwölf Friedenstauben und 108 Luftballons mit Gorbi-Bildchen rüber in die Zone flattern lassen. Für Montag hat sich das Haus am Checkpoint noch Anspruchsvolleres vorgenommen: Bei einer Pressekonferenz der noch überflüssigeren „AG 13.August“ werden folgende Personen der fernen und näheren Stacheldrahtgeschichte anwesend sein. O-Ton:
-der erste geflüchtete Volksarmist nach dem Mauerbau
-zwei der erfolreichsten Fluchthelfer, Westberliner, von denen der eine zu lebenslanger Haft verurteilt wurde
-ein durch eine Selbstschußanlage Schwerverletzter, der noch Splitter im Körper hat, die zu entfernen zu risikoreich ist
-ein Westberliner, der von 1962 bis 1989 zahlreiche gewaltfreie Aktivitäten an der Mauer unternahm und zu acht Jahren Haft verurteilt wurde
-ein Franzose, der als erster die Mauer von oben bis unten bemalte in einer Gesamtlänge von 1.000 Metern
-eine Frau, die wegen Nichtanzeigens eines Fluchtvorhabens ein Haftjahr verbüßte und nach Entlassung für Menschenrechte in der DDR demonstrierte
-weitere Personen, denen die Mauer schicksalsbestimmend wurde für ihr Leben.
Wenn das Kleinkunst an der Mauer ist, dann sollte selbige schleunigst von der deutschen demokratischen Bau-Soldateska demontiert werden.
Butter-Flüge an die Mauer: Umgerechnet 300 D-Mark kosten in Großbritannien Live-Kurztrips mittenmang in die weltgeschichtlichen Umwälzungen am Brandenburg Gate. Zwei neu eingerichtete Charterflüge fliegen samstags und sonntags von London ab, nach sieben (7!) Stunden geht's zurück.
Wenn Liberale gaanz creativ werden, dann kommt folgendes dabei heraus: Die Berliner FDP hat Auto-Aufkleber (natürlich Auto!) mit dem Aufdruck „Wir sind ein Volk“ hergestellt und will diese am Samstag in der City zusammen mit ihrem Vorsitzer Oxfort unter das gesamtdeutsche Volk bringen. Auflage: 30.000. Anbiedernder O-Ton blau-gelb: „Die FDP greift mit ihrem Slogan die zentrale Parole der DDR -Demokratiebewegung 'Wir sind das Volk‘ auf. Mit ihrer Aktion folgt die FDP einer Anregung aus der Liberal -Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD)“. Arme Blockpartei.
Helden der Wochenendarbeit bei der Stadtreinigung. Im Zweischichtbetrieb werden, wie die BSR mitteilt, über 300 Mitarbeiter und 120 Reinigungsfahrzeuge versuchen, den Kudamm und andere „neuralgische Stellen unserer Stadt“ besenrein zu kriegen. Außerdem sollen neben den rund 270 öffentlichen Bedürfnisanstalten weitere 35 Toilettencontainer in der City und an den Grenzübergangsstellen plaziert werden.
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