Zusammenbruchsphantasien

Kohl kommt auch ohne Wiedervereinigung zurecht  ■ K O M M E N T A R E

Wie kräftig muß der Wind der Geschichte eigentlich noch blasen, bis sich auch Kohl ein wenig davon mitteilt und er nicht nur von notwendiger „Phantasie“ spricht, statt hölzerne Floskeln von sich zu geben? Wenn es Reformen gibt, dann helfen wir. Das liest er ab in derselben Formulierung wie vor acht Tagen beim Bericht über die Lage der Nation acht Tage, in denen so unendlich viel passiert ist, daß diese Zeit wie eine Ewigkeit wirkt. Kein Wort darüber hinaus mehr über das, was konkrete Hilfe heißen könnte.

Aber es ist nicht gerecht, Kohl als tumben Tor hinzustellen; es ist schlimmer: Er weiß, was er da macht. Bauernschlau spricht der Kanzler davon, man werde akzeptieren, wenn sich die DDR für oder gegen die Wiedervereinigung entscheide. Gemeint ist etwas anderes: Wir brauchen nicht ständig über die Wiedervereinigung zu reden, sie wird uns schon in den Schoß fallen.

Kohl steht da nicht allein; in der großen Koalition der Verlogenheit hat Bahr das für die SPD ebenso formuliert. Doch im Gegensatz zur SPD ist die Bundesregierung in der Lage auszuführen, was ihr vorschwebt: und da sieht die Kategorie Selbstbestimmungsrecht plötzlich ganz anders aus. Deswegen wird es die notwendige wirtschaftliche Hilfe für die DDR nicht geben, auch wenn das vorrangig der dortigen Opposition schaden wird, deren Bemühen, der DDR-Bevölkerung Hoffnung zu geben für eine bessere Zukunft, unverzichtbar verknüpft ist mit einer raschen Verbesserung der Lebensverhältnisse.

Nicht, daß dies die Bundesregierung nicht wüßte. Sie hat aber ebenso begriffen, daß sie von der demokratischen Opposition keine Unterstützung für ihre Wiedervereinigungsphantasien erhalten wird. Um ihre Ziele zu erreichen, wird deshalb nicht auf die Unterstützung der Opposition, sondern auf Kapitulation, auf den völligen Zusammenbruch gesetzt. Die Mittel sind die Erpressung und das Aushungern, die schon auf so beschämende Weise gegen die Polen gewandt wurden. Die neu entstandene Opposition, für die es ein Schlag ins Gesicht ist, wenn Kohl die DDR -Entwicklung als „Erfolg unserer Politik“ wertet, darf sich auf einen sehr kalten Winter einrichten.

Gerd Nowakowski