piwik no script img

Ost-Berlins Liberale preschen vor

■ Parteichef Gerlach spekuliert über Wahlniederlage der SED / Liberale wollen vier Ministersessel in verkleinertem Kabinett und legen „Leitsätze“ vor / Abschaffung der SED-„Kampfgruppen“ verlangt

Berlin (taz/ap) - Kurz vor der für heute angekündigten Vorstellung der neuen Regierung macht die Liberaldemokratische Partei der DDR (LDPD) Druck. Ihr Vorsitzender Gerlach erklärte in einem Interview mit der ARD, es könne wohl sein, daß die SED bei künftigen Wahlen die Mehrheit verliert. „Auch diese Konsequenz muß in der SED gezogen werden“, verlangte er. Freie Wahlen sollten bereits im kommenden Jahr stattfinden. Das Kabinett, das der gewählte Ministerpräsident Hans Modrow heute der Volkskammer präsentieren will, werde, so Gerlach, nur noch aus „etwa 23“ statt bisher 45 Ministern bestehen. Die Liberalen, die in der alten Regierung nur den Justizminister gestellt hatten, wollen drei zusätzliche Ressorts, darunter das neuzubildende Ministerium für Forschung und Technologie.

Für die Freitag und Samstag tagende Volkskammer wird die LDPD eine Gesetzesvorlage zur Änderung von Artikel 1 der Verfassung einbringen. Darin wird, so berichtete gestern die Parteizeitung der Liberalen 'Der Morgen‘, „die Beseitigung des festgeschriebenen Führungsanspruchs einer Klasse oder Partei im Staat“ gefordert.

In der gleichen Ausgabe wird ein Entwurf zu „Leitsätzen liberal-demokratischer Politik heute“ veröffentlicht. Ausgehend von der Feststellung, daß sich die DDR in einer „tiefen Krise“ befindet, produziert durch „unerträgliche Machtarroganz und politische Ignoranz“, werden einschneidende Veränderungen des gesamten System gefordert. Die LDPD sieht sich legitimiert, in dieser Entwicklung den Vorreiter zu spielen, weil die Partei „zu einer Zeit, da ihr Repressalien drohten, öffentlich erklärt (hat), unser Land brauche eine neue Politik...“

Obwohl kein Zeitraum genannt wird, kann man annehmen, daß sich dieses Eigenlob lediglich auf die letzten vier Wochen bezieht. In selbstkritischem Ton wird angemerkt, daß auch die LDPD „Mitverantwortung“ trägt, denn „sie hätte viel früher und nachdrücklicher die Politik der SED öffentlich kritisieren und zurückweisen müssen“.

Weiter gefordert wird in den Leitsätzen eine „kritische Aufarbeitung der Geschichte unseres Landes unter dem Aspekt, wie es wiederholt zu Machtmißbrauch, Stagnation und Personenkult kommen konnte“. Um eine Wende einzuleiten, sei eine Trennung von „Parteien und Staat“ und eine Unterstellung aller Staatsorgane - einschließlich der Armee

-unter gewählte Volksvertretungen notwendig. Mit der Forderung, „Milizeinheiten, die einer Partei unterstehen, aufzulösen“, wird faktisch die Abschaffung der „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ verlangt.

Zur künftigen Rolle der LDPD heißt es: „Unvermeidlich wird sein, daß sie sich in Widerspruch - Opposition - zu allen gesellschaftlichen und politischen Kräften und zu allen Absichten und Entscheidungen begibt, die der demokratischen Erneuerung des Sozialismus entgegenstehen, die sie behindern, die bremsen und zu hintertreiben versuchen.“ Die Zulassung von neu entstandenen „Bürgerbewegungen und Initiativen zur Neubildung von Parteien“ wird zwar gefordert, doch sonst sparen die Leitsätze das künftige Verhältnis der LDPD zu diesen weitgehend aus.

Besondere Betonung wird in dem Papier der Intelligenz gewidmet. Ihr „gesellschaftlicher Status“ sei „entschieden anzuheben“ und „Tendenzen der Nivellierung und Gleichmacherei“ zu bekämpfen. Freiheit der Wissenschaft, Abschaffung der Zensur und „ungehinderte Teilhabe am internationalen wissenschaftlichen Leben“ werden ebenso verlangt wie „freie Niederlassung von Ärzten“ und die „Bildung unabhängiger Ärztevereinigungen“.

Die wirtschaftlichen Reformvorstellungen der Liberalen beschränken sich auf populäre Forderungen wie „Entbürokratisierung der Planung“, Konzentration der zentralen Leitung auf Grundfragen und „uneingeschränkte Eigenverantwortung der Betriebe, Kombinate und Territorien im Rahmen notwendiger Planung“. Weiterhin sollen einige Kombinate entflechtet werden, Genossenschaftswesen und privates Handwerk gefördert und die Voraussetzungen für Joint-ventures mit ausländischem Kapital geschaffen werden. Dem Umweltschutz soll schon bei der Investitionsplanung ein zentraler Stellenwert eingeräumt werden.

Derweil wird die Gründung eines liberalen Jugendverbandes vorbereitet. In der gestrigen Ausgabe des 'Morgen‘ wurde ein Gründungaufruf veröffentlicht, den der Jugendbeirat beim Bezirksvorstand Berlin der LDPD verfaßt hat. Seiner Kürze und seines Tiefsinns wegen dokumentieren wir ihn fast vollständig:

„Die linksliberale Alternative - LILA - die demokratische Jugend.

Wir wollen: LILA - die demokratische Jugend.

Jugendpolitik von unten; Antifa; Entfaltung der Individualität; offene Weltsicht; gesundes Biotop Europa; 3/3-Gesellschaft; geistige Abrüstung; waffenfreie Welt ohne Angst ist gleich:

SOZIAL-IST-MUSS!

Wir brauchen LILA - die demokratische Jugend.“

Walter Süß

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen