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Klinkeln - wie der Name sagt

■ Bremer Bürgerschaft: Unter den Blinden ist der Taube König

Volksvertreter - das ist kein Geheimnis - müssen über alles Reden halten. Insofern kann durchaus als bürgerschaftlicher Normalzustand gelten, daß Abgeordnete auch mal reden wie Blinde von der Farbe. Nun ist „weiß“ im künstlerischen Sinne ohnehin keine Farbe, sondern eine Art ästhetische Nullösung. Und genau in diesem Sinne redete der grüne Abgeordnete Martin Thomas in der letzen Bürgerschaftssitzung vom Thomas sprach über etwas, was es öffentlich gar nicht gibt, zitierte das „Nichts“, las „weiße Flecken“ vor. Sein Thema während der Debatte über das Bremer Geiseldrama: Die „PDV (Polizei-Dienstvorschrift) 132 Geiselnahme“. Darin heißt es („nur für den Dienstgebrauch“): „Bei Befreiuung von Geiseln kann bei übergeordneten Interessen im Einzelfall eine erhöhte Gefährdung der Geiseln unumgänglich sein“. Klartext: Für ihre Befreiung haben Geiseln im Zweifelsfall auch ihren Tod billigend in Kauf zu nehmen.

Um den polizeidienst-exklusiven Gebrauch dieses Satzes sicherzustellen, hatte Bürgerschaftspräsident Dieter Klink ihn schon im Minderheitenvotum der Grünen zum Absschluß des Geisel-Untersuchungsausschusses weißen lassen. Thomas zitierte also ein parlamentarisches Loch, als er diesen Satz laut und nach ordnungsgemäßer Einleitung „Ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten“ über die Bürgerschaftsmikrofone vorlas und rhetorisch das Tipp-ex des Präsidenten mit dessen schweigend erteiltem Einverständnis wieder abkratzte.

Die Dialektik der Wiederkehr des Verdrängten: Der Präsident registrierte sie erstmal gar nicht. Er tat, was seines Amtes ist. Er saß. Saß vor. Saß in Würde vor. Erst als einige CDU -Abgeordnete laut zwischenrufend petzten, beschlich Klink eine Ahnung von der Unaussprechlichkeit des soeben Ausgesprochenen. Suchend tastete er nach seiner ruhegebietenden Klingel, fand sie, schwang sie und war beleidigt: Der grüne Abgeordnete habe verschwiegen, woraus er mit „Genehmigung des Präsidenten“ zitieren werde. Das war falsch. Auch dem letzten Abgeordneten war aus dem Zusammenhang der grünen Rede klar, was da gleich kommen sollte. Nur der erste hatte nichts gemerkt.

Unklar ist bislang, ob der Vorgang der Nachwelt erhalten bleiben wird oder Klink nun nun zum zweiten Mal mit der Tipp -ex-Flasche in die Bremer Geschichte eingreifen wird, um die unerhörte Passage in den Bürgerschaftsprotokollen nachträglich ungeschehen zu machen. Alte Bügerschaftshasen erinnern sich immerhin an einen uralten Präzendenzfall, in dem ein Absatz einer Parlamentsrede nachträglich aus den Protokollen entfernt wurde. Wir wissen natürlich worum es damals ging, aber verraten wird es nicht.

Rosi Roland

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