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Kumpels verhandeln mit Ryschkow

Bergleute aus der ganzen UdSSR in Moskau eingetroffen / Nach der Wiederaufnahme des Streiks wird über alte und neue Forderungen verhandelt / Der erste Massenstreik in der UdSSR ist noch lange nicht vorbei  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

Streikkomiteevertreter aus der ganzen Sowjetunion waren am Donnerstag abend in Moskau eingetroffen, um ab Freitag früh die streikenden Bergleute aus Workuta in ihren Verhandlungen mit Ministerpräsident Ryschkow zu unterstützen. Einigen der Komiteesprecher hatte man in den letzten Tagen Disziplinarverfahren und Entlassungen angedroht. Die Oktobergehälter sind auch den Kumpels in Workuta nicht ausgezahlt worden, die erst seit November streiken: Das gilt für die meisten.

Noch sind die Bilder vom Juli unvergessen: Hunderttausende von Kumpels saßen Tag und Nacht, tagaus, tagein in Arbeitskleidung in den Stadtzentren der großen sowjetischen Bergbaugebiete vom Donbass-Becken in der südlichen Ukraine bis zur Kusbass-Region in Zentralsibirien und Workuta im fernen Osten. Aus Kohlegruben mit völlig unterschiedlichen geologischen Bedingungen hatten sich die Bergleute zum ersten Massenstreik in der Geschichte des Landes erhoben.

Eine Kommission aus Politbüromitgliedern, Verwaltungsleuten und dem verschreckten Bergbauminister Michail Schadov war schließlich von Ort zu Ort geeilt und schloß zum Monatswechsel Juli/August einen Regierungsvertrag mit den Bergleuten. Diese setzten den Streik daraufhin aus.

Das Projekt sollte die schwindsüchtige Sowjetökonomie etwa zwei Billionen Rubel kosten. Löhne und Renten wurden zwar mittlerweile erhöht, aber gerade die für die Bergleute zentralen Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur ihrer Wohn-und Arbeitsgebiete sind im Sande verlaufen.

Es fehlt nach wie vor an Transportmitteln, der Mangel an Arbeitsmaterial wie etwa Röhren und Schalholz läßt die Produktion immer wieder stocken und macht die Sicherheit am Arbeitsplatz zur Illusion. Viele Gruben arbeiten unrentabel, auch wenn die dort geförderte Kohle auf dem Weltmarkt Rekordpreise erziehlt.

Für Ende Oktober war ein Zwischenbericht der Regierung über die Verwirklichung der Vertragspunkte vorgesehen - der nicht geliefert wurde. Das Kohleministerium und zentrale Behörden sind inzwischen darangegangen, sich „perestroikagemäß“ umzustrukturieren - ohne die Bergleute dabei auch nur zu Rate zu ziehen.

Bei Vertragsabschluß war das Mittel des Streiks noch legal, weil in der Sowjetunion bisher in keiner Weise gesetzlich geregelt. Inzwischen hat sich die Lage geändert. Nach den im Sommer gemachten Erfahrungen hat der Oberste Sowjet im September ein Paket von zeitlich befristeten Ausnahmeregelungen verabschiedet, die Streiks im Energiesektor generell verbieten. Die Dauerexistenz von Streikkomitees - in vielen Bergbaustädten haben sie faktisch die Regierung übernommen - ist nach einem neuen „Gesetz über Arbeitskonflikte“ nicht mehr vorgesehen.

Die Legalisierung ihrer Komitees ist auch die erste der Minimalforderungen ihrer Fünfpunkteerklärung, mit der die Kumpels aus Workuta am Freitag im Kreml antraten. Zweitens verlangen sie, daß die Verantwortlichen für die Nichtumsetzung des Vertrages zur Rechenschaft gezogen werden. Eine Workutaer Spezialität sind die sogenannten „Nordzuschläge“, die die Arbeiter im hohen Norden für die eisige Kälte entschädigen sollen. Auf sie beziehen sich zwei weitere Forderungen: Neuformulierung der Bedingungen, die zum Verlust des Anspruchs auf diese Zuschläge führen, und Übertragbarkeit dieses Anspruchs auf die Kinder - letzteres ist eine neue Forderung im Gespräch mit Ryschkow. Der fünfte Kernpunkt heißt schließlich: Ernst machen mit der ökonomischen Selbständigkeit der Gruben. Fast die ganze Bergarbeiterdelegation fliegt am Sonnabend gleich weiter nach Kemerovo. Dort trifft sich ein erweitertes Forum der sowjetischen Bergleute, um eine eigene Massenorganisation zu gründen.

Zwischenberichte über die Verhandlungen mit Ministerpräsident Ryschkow waren vor Redaktionsschluß nicht zu erwarten. Siehe auch Seite 16

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