: Tausende von Alu-Chips im Eimer
■ Erste Berührung von DDR-Besuchern mit Deutschlands einzigartiger Zeitung / Reißender taz-Absatz zum Kurs 1:1
Es ist wie in den alten schwarz-weißen Arbeiterfilmen. Die Fabriksirene heult, die Tore öffnen sich, und heraus quillt unablässig ein Strom von Menschen. Nur daß diese hier, samstagsmorgens am Übergang Oberbaumbrücke/Schlesisches Tor, nicht eiligen Schritts nach Hause streben.
Etwas irritiert mustern sie die neue Umgebung, vielleicht schauen sie auch nur, von welcher Seite sie nun gleich mit Kaffeetüten und Schokolade beworfen werden. Doch an diesem Tag beschränkt sich die humanitäre Hilfe auf Gutscheine von Burger King, Luftballons und Pappkrönchen zum Selbstbasteln. Die 'Zweite Hand‘ wird umsonst verteilt, die BVG informiert kostenlos auf Merkblättern inklusive Stadtplan, der Senat bittet per Faltblatt zum Begrüßungsgeld.
Die Firma Phillips ist so freundlich und sponsert einen Burschen, der den Ankömmlingen per Megaphon entgegenbrüllt, hier sei alles voll und in der Alten Jakobstraße überhaupt keine Schlange am Geldschalter. Aber wo, bitteschön, ist die Alte Jakobstraße? Haben Sie vielleicht einen Stadtplan? Klar haben wir einen Stadtplan, einen bunten sogar, für eine Mark dreißig, und es hängt eine ganze Zeitung mit dran: die taz.
35.000 Exemplare mehr als gewöhnlich wurden am Samstag gedruckt, um an sämtlichen Grenzübergängen der Stadt den Ostbesuchern die vielleicht erste vernünftige Zeitung ihres Lebens in die Hand zu drücken. Der Preis ist wie immer, aber zum Kurs 1:1. Was für ein Aufgalopp, wenn der erste Schluck zum Kosumrausch noch in Ostmark zu erledigen ist!
Das Blatt geht weg wie warme Semmeln: In einer guten Stunde verkaufen wir zu viert 1.500 tazzen. Die Leute greifen zu wie nix, und wenn die Kollegin ruft „Die taz heute mit Stadtplan“ greifen sie noch schneller zu. Auch die Aussicht auf „Zwei Seiten Wolf Biermann über Egon Krenz“ scheint zu locken.
Möglich aber auch, daß die gute Laune der Kundschaft einfach daher kommt, mit DDR-Geld überhaupt noch ein Geschäft machen zu können. Es hat nur wenige Tage durchlässiger Mauer bedurft, um das Verhältnis dieser Menschen zu ihrem Geld zu verändern. Ein ums andere Mal werfen sie ein Zweimarkstück in unseren Putzeimer, der als Kasse dient, und verzichten, ohne zu Überlegen, aufs Rausgeld. „Stimmt so.“ „Mach dir 'n schönen Abend, Kleiner.“ „Wat willste denn noch mit die Aluchips.“ „Die packen unser Blechgeld gleich in‘ Mülleimer.“ „Könnter nachher einschmelzen und Blech draus stanzen.“ Und dann die Überraschung. „Wieviele Zeitungen sind das denn?“ - „Eine!“
-„Mein Jott, is die dick!“
Nun gibt es ja für 70 Pfennig in der DDR noch manches zu kaufen, aber das kratzt heute niemanden. Auf 1:20 steht das groteske Verhältnis der beiden deutschen Währungen, ein Facharbeiterlohn bringt zum Einkauf am Kudamm grade mal 200 DM. Da kommt zwangsläufig das Gefühl auf, man könne die Alumünzen gleich wegwerfen. Um so schöner, wenn es noch eine taz dafür gibt.
-thöm
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