: Politische Premiere in Leipzig
Erste offizielle Kundgebung des Neuen Forums / Differenzierter Umgang mit der SED / Gegen Ausverkauf der DDR und Wiedervereinigung / Frauen sollen nicht länger männliche Helden pflegen ■ Aus Leipzig Bettina Markmeyer
Nicht nach Berlin oder Hannover, sondern zum Leipziger Dimitroff-Platz hatten sich am Samstag Zehntausende aufgemacht, um einer Premiere anderer Art beizuwohnen, der ersten offiziellen Kundgebung des Neuen Forums. Programmatisches zur künftigen Politik war angekündigt worden, das also, was die Basis in den letzten Wochen immer lauter gefordert hatte.
Jochen Läßig, der sich als Sprecher des Neuen Forums bereits auf den Montagsdemonstrationen einen Namen gemacht hatte, lieferte es: Trotz bissiger Kritik an den Wendehälsen Krenz, Schabowski und Co., rief er zum differenzierten Umgang mit der SED auf: „Uns ist nicht geholfen, wenn die SED zugrunde geht und uns mitzieht.“ Mehr als „Machtbeteiligung, Mitregieren und Kontrolle“ könne aber eine Bewegung wie das Neue Forum „vorläufig“ nicht leisten. „Dafür geht alles zu schnell.“ Läßig warnte besonders vor den Folgen der Grenzöffnung. Er forderte die DDR-Regierung auf, mit den oppositionellen Kräften zusammenzuarbeiten. „Jemand wie Gerlach verhandelt doch heute schon mit den westlichen Monopolherren über den Ausverkauf unseres Landes.“
Im einzelnen forderte Läßig unter großem Beifall, alle Devisen, die nicht in der Wirtschaft gebraucht würden, in den Reiseverkehr zu pumpen und die Devisenprivilegien für Funktionäre abzuschaffen. Außerdem habe zwecks Deviseneinsparung „die Unterstützung der DKP zu unterbleiben“. So schnell wie möglich müßten außerdem Schutzzölle eingeführt und die „Probleme der Konvertierbarkeit der Währung und der Arbeit von DDR-Bürgern im westlichen Ausland gelöst werden“. Bestrebungen zur Wiedervereinigung erteilte Läßig eine deutliche Absage.
Läßig ließ die in der Bevölkerung heftig diskutierte Frage offen, ob sich das Neue Forum in eine Partei umwandeln soll. Das Neue Forum stehe für Basisdemokratie und wolle „keine Bonzenpartei“ werden. Eine Parteibildung bei freien Wahlen schloß er jedoch nicht ausdrücklich aus. Dazu hieß es auf einem Transparent: „Geben wir uns eine neue Zukunft, Neues Forum als Partei“.
Für den „Demokratischen Aufbruch“ forderte der Leipziger Arzt Josef Kesting freien Zugang zu den Archiven, die öffentliche Vernichtung der Stasi-Informationen aus Spitzeldiensten und ein „Preisausschreiben über die sinnvolle Verwendung der bisher verschwendeten Kräfte und Mittel“. Eva Günther, Hausfrau, forderte, die verhaßten Kaderakten dorthin zu befördern, wo nach dem Wahlbetrug auch die Wahlzettel gelandet seien: in den Reißwolf. Viel Zustimmung gab es auch für relativ neue Töne: Die Regierung soll erneut zum Einmarsch in die CSSR 1968 Stellung nehmen, wurde gefordert.
Es blieb Petra Lux, Sprecherin des Neuen Forums in Leipzig, vorbehalten, für eine leichte, aber allgemeine Verunsicherung zu sorgen. Nur zaghafter Beifall wurde zunächst laut, als sie die Frauen aufforderte, endlich ihren Platz in der Geschichte einzunehmen: „Jetzt, 1989, haben wir unsere Oktoberrevolution! Hört auf, Krankenschwestern zu sein für die abgekämpften Helden aus der Politik. Bringt euch selbst ein“, rief sie. Auch die neuen, die eigenen Helden, blieben als Männer nur allzu gern unter sich, im Neuen Forum genauso wie in anderen oppositionellen Gruppen.
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