: 250.000 belagerten CSSR-Regime
■ Größte Demonstration auf dem Prager Wenzelsplatz seit 1968 / Krisensitzung von Regierung und Parteiführung / Krenz verschiebt Besuch / Opposition schließt sich zusammen / Mehrere Festnahmen / Unklarheit über Tod eines Demonstranten / Studenten beschließen einwöchigen Streik
Prag (dpa/ap/taz) - Der Druck auf die tschechoslowakischen Machthaber verstärkt sich dramatisch. Am Montagabend versammelten sich nach Augenzeugenberichten 250.000 Prager BürgerInnen auf dem Wenzelsplatz. Sie forderten den Rücktritt der Regierung und freie Wahlen und versuchten zur Prager Burg, dem Sitz der Regierung, zu gelangen. Nach Agenturberichten tagten am Abend Parteispitze und Regierung. Die Polizei sperrte die Brücken, hielt sich sonst aber bis Redaktionsschluß zurück.
Die Demonstranten forderten hauptsächlich den Rücktritt von Parteichef Jakes, erinnerten aber auch immer wieder mit Sprechchören und Kerzen an den brutalen Polizeieinsatz vom Freitagabend, bei dem viele verletzt und festgenommen wurden. Auch in Brünn demonstrierten nach Informationen der taz 30.000 Menschen. Dort wurde der frühere Vorsitzende der mährischen KP, Jaroslav Sabata, festgenommen. Mehrere festnahmen von Aktivisten aus Friedens- und Ökologiebewegung wurden der taz auch aus anderen Landesteilen bekannt.
Angesichts der unsicheren Lage der Regierung hat am Montagabend DDR-Staats- und Parteichef seinen für heute geplanten Besuch in der CSSR auf unbestimmte Zeit vertagt.
Die Bürgerrechtsinitiativen der Opposition haben sich zu einem „Bürgerforum“ zusammengeschlossen, das mit der Regierung Gespräche aufnehmen will, gab der Dramatiker Vaclav Havel am Montag bei einer Pressekonferenz in seiner Wohnung bekannt. Das Forum fordert den Rücktritt der Politiker, die für den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts 1968 verantwortlich waren, sowie jener, die der „geistigen und wirtschaftlichen Verwüstung des Landes nach 1968“ schuldig seien. Namentlich wurden Staatspräsident Husak, Generalsekretär Jakes sowie die ZK-Sekretäre Fojtik und Hoffmann und Gewerkschaftschef Zavadil genannt. Weiter wird verlangt, daß - unter Beteiligung des Bürgerforums eine Untersuchungskommission die Vorgänge vom Freitag überprüfen soll. Diese Forderungen müßten in den Massenmedien veröffentlicht werden.
Unklar ist das Schicksal des Studenten Martin Smid, dessen Tod bei einem Polizeieinsatz am Freitag von Oppositionskreisen gemeldet worden war. Das Innenministerium der CSSR behauptete, es gebe an der Karls-Universität zwei Studenten dieses Namens. Der eine sei überhaupt nicht auf der Demonstration gewesen, der andere habe zwar teilgenommen, sei aber unverletzt. Zur Glaubwürdigkeit dieser Version trägt nicht gerade bei, daß eine Zeugin, die Freundin des vermeintlichen Toten, verhaftet worden ist. In diesem Zusammenhang verhaftet wurden Petr Uhl, seine Frau Anna Sabatova, der Sprecher von Charta 77, Tomas Hradlicek, und Jan Chudomel von der Unabhängigen Friedensorgansation NMS. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten durch die Weiterverbreitung der Nachricht über Smids Tod „den Interessen der Republik im Ausland geschadet“.
Am Montag sind in Prag mehrere hundert Studenten in einen Sitzstreik getreten. Auf Versammlungen beschlossen die Studenten einen einwöchigen Streik und forderten die Bildung einer unabhängigen Untersuchungskommission wegen der Vorfälle vom Freitag. Auch in Olmütz und Reichenberg wollen die Studenten nach einer Meldung der österreichischen Nachrichtenagentur APA eine Woche lang streiken.
Das Parteiorgan der Tschechoslowakischen Sozialistischen Partei (CSS), 'Svobodne Slovo‘, hat das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen die Demonstranten vom Freitag scharf kritisiert. In einer vom Vorstand und den Mitgliedern der CSS-Parlamentsfraktion unterzeichneten Erklärung wurden die Behörden aufgefordert, die Menschenrechte sowie politische Rechte wie die Versammlungsfreiheit anzuerkennen. „Die Übergriffe der Polizei verschärfen die Spannun gen in der Gesellschaft und wek ken bei denen, die die Zukunft die ses Landes bedeuten, bei der Jugend, eine natürliche Abneigung“, hieß es. Das Blatt berichtete von zahlreichen Protesten seitens Fortsetzung auf Seite 2
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von Künstlern, Kirchen und Intellektuellen gegen die polizeilichen Gewalttätigkeiten.
Die Mitglieder des Prager Symphonieorchesters, die sich auf einer vierwöchigen Konzerttournee durch Japan befinden, wandten sich schriftlich an die tschechoslowakische Botschaft in Tokio und kritisierten den brutalen Polizeieinsatz in ihrer Heimat.
„Zwang und Gewalt werden niemals das Problem lösen“, hieß es in dem Brief, den der musikalische Direktor und Chefdirigent des Orchesters Jiri Belohlavek der Presse in Tokio vorstellte.
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