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Keine Stunde Null

Eine Antwort auf Arno Widmanns Essay „Gründerjahre“  ■ E S S A Y

Mit der Unterzeile „Ein laienhafter Versuch, einmal im Leben Realist zu sein“ hat Kulturredakteur Arno Widmann seinen Essay über die Perspektiven der wirtschaftlichen Entwicklung der DDR versehen (taz vom 18.11.). Nun ist zwar nichts dagegen einzuwenden, daß Spekulationen über die deutsch -deutsche Zukunft Hochkonjunktur haben. Nehmen Ereignisse historische Dimensionen an, stehen ihnen die Dimensionen bedruckten Papiers in der Regel nicht nach.

Unangenehm daran ist auch nicht, daß solches Papier häufig so schnell zur Makulatur wird, wie es bedruckt worden ist dies läßt sich trotz des Versuchs, ein Stück Geschichte mitzuschreiben, bei dem augenblicklichen Tempo der Entwicklung nicht vermeiden. Ärgerlich ist es aber, wenn die Schlußfolgerungen nicht oder nur wenig zur realen Ausgangssituation passen - so interessant sie auch sein mögen, weil sie symptomatisch dafür sind, wie schnell Leute auf den Horror kommen.

Denn für Widmann ist die Perspektive ebenso einfach wie klar: „Die DDR wird von der Bundesrepublik, und das heißt von der bundesrepublikanischen Industrie, saniert, und zwar zu den Bedingungen der BRD und ihrer Industrie... Mitten in Europa werden die Gründerjahre fröhlich-grausige Urstände feiern. Das wird das Ende vom Ende der DDR sein.“ An keiner Stelle in Widmanns Vision gibt es Subjekte des Handelns, außer der bundesdeutschen Industrie: Die Oppositionellen, die Reformkräfte innerhalb der SED, die Chefs der großen Betriebe, die Regierungspolitiker und die Millionen von DDR -Bürger, die ebensowenig eine politische wie eine ökonomische Wiedervereinigung wollen, sind für Widmann nicht einmal hilf- oder bedeutungslos, sondern er unterschlägt sie schlichtweg. Sein Blick wendet sich nach Bonn, Stuttgart und Frankfurt, aber er läßt Ost-Berlin, Dresden und Leipzig außen vor - und unterscheidet sich darin um keinen Deut von jenen Politikern und Managern in der BRD, die unablässig den Eindruck erwecken, es gäbe in der DDR jetzt eine wirtschaftliche Stunde Null.

Doch die gibt es nicht. Sie läßt sich erst recht nicht herbeischreiben, indem quasi ein brasilianisches Schuldendebakel an die Ostgrenze der BRD gedichtet wird, das die DDR angeblich vollends wehrlos macht. So entstehen Gerüchte: Kulturredakteur Widmann vergleicht 130 Milliarden Mark Inlandsverschuldung der DDR mit den 120 Milliarden Dollar, mit denen Brasilien im Ausland verschuldet ist. Warum? Entweder er vergleicht die Auslandsschulden und die Bonität auf den internationalen Kapitalmärkten, und da steht die DDR im Gegensatz zu Brasilien recht gut da, auch wenn die Netto-Auslandsverschuldung tatsächlich 20 Milliarden Dollar betragen würde.

Das ändert sich auch nicht dadurch, daß der wirtschaftsverwöhnte BRD-Autor einem Land, dessen industrielles Niveau deutlich unter dem westeuropäischen Durchschnitt liegt, den Status als Industrieland einfach abspricht und es kurzerhand - „betrachtet man es freundlich“ - zum Schwellenland umdeklariert. Und wenn er schon die Inlandsverschuldung der DDR beziffert, dann doch bitte im Vergleich zur BRD (sie beträgt eine knappe Billion D-Mark). Dabei werden vermutlich in der DDR auch große Bereiche der staatlichen Wirtschaft unter diese Inlandsverschuldung fallen; dann müßte in der BRD noch die Verschuldung der entsprechenden Privatsektoren hinzugezählt werden.

Wenn aus der DDR glaubwürdige Zahlen vorliegen und die statistische Systematik das zuläßt, können sie ins Verhältnis zum dortigen Bruttosozialprodukt gesetzt werden und der Grad der Inlandsverschuldung von DDR und BRD miteinander verglichen werden. Der Wert für die DDR, kann spekuliert werden, dürfte nicht sonderlich gut aussehen. Aber „laienhafte Versuche, einmal im Leben Realist zu sein“ sollten entweder bis zum Vorliegen solcher Zahlen warten oder sich mit anderen Aspekten beschäftigen.

Gelegentlich sollte auch - ohne die Zustände dort beschönigen zu wollen - darauf hingewiesen werden, daß die DDR-Wirtschaft in den letzten vierzig Jahren eben nicht zusammengebrochen ist und sich derzeit zwar in einer heftigen Krise, aber eben nicht in Auflösung befindet. Die Ökonomie der DDR ist nicht nur durch die vielfältigen inneren Verknüpfungen über die Pläne hochkomplex, sondern schon deswegen, weil sie tatsächlich eine industrielle Ökonomie ist. Wir werden in den kommenden Monaten, wenn ausländische Medien frei oder jedenfalls freier als bisher über die Zustände in der DDR-Wirtschaft berichten dürfen, eine Fülle von Reportagen über „frühkapitalistische Zustände“ in volkseigenen Betrieben lesen. Sie werden wohl nicht falsch sein, aber die DDR wird uns deutlich anachronistischer vorkommen, als sie es eigentlicht ist.

Wenn schon nicht von einer wirtschaftlichen Stunde Null, so kann derzeit noch mit einiger Berechtigung von einer wirtschaftspolitischen Stunde Null gesprochen werden. Die Regierungserklärung von Hans Modrow war in ihren wirtschaftspolitischen Passagen vom Einzug eines erstaunlichen, bescheidenen Realismus geprägt. Falls diese Abschnitte von Vordenkern unter den SED-Reformern geschrieben waren, ist daraus zu schlußfolgern, das sich das Vakuum zu füllen beginnt. Ernsthafte Sorgen, daß Fachminister, die Fraktionen der Blockparteien oder gar einzelne Abgeordnete da mithalten können, brauchen sich die Verfasser nicht zu machen - die Stellungnahmen in der Volkskammer zur Modrow-Regierungserklärung waren im Niveau verheerend, und einen kaum kompetenteren Eindruck machte etwa die neue Finanzministerin.

Auch wenn Widmann es nicht wahrhaben mag: Die bundesdeutschen Finanz- und Konzernherren mögen Vorschläge machen und Phantasien entwickeln, soviel sie wollen. Formuliert werden die Bedürfnisse aber in der DDR. Undeutlich bleibt dabei völlig, weshalb die SED ausgerechnet dem bundesdeutschen Kapital eine Monopolrolle zukommen lassen sollte. Weil sie als einzige über die Kapazitäten und deutsche Sprachkenntnisse verfügt? Dazu sei nur angemerkt, daß die Kapazitäten der bundesdeutschen Industrie bereits über-ausgelastet sind, ganz im Gegenteil zu denen aus anderen EG-Ländern oder aus Japan. Und wo schon bundesdeutsche Wirtschaftsführer die Wiedervereinigung wollen, wäre die SED schlichtweg blöd, wenn sie sich nicht des konkurrierenden ausländischen Kapitals bedienen würde. Anders als etwa der IWF in der Dritten Welt ist das bundesdeutsche Kapital oder auch das Bundeswirtschaftsministerium bei weitem nicht in der Lage, der DDR die Bedingungen der wirtschaftlichen Erneuerung zu diktieren.

Das können allerdings die Bewohner der DDR; es ist durchaus möglich, daß der Abstimmung an den Wahlurnen eine Abstimmung mit den Füßen vorausläuft. Ob Widmann sie für dumm hält, ist seinem Text nicht zu entnehmen, weil diese Bevölkerung darin nicht vorkommt. Aber es scheint so, daß innerhalb weniger Wochen ein gesellschaftlicher Konsens über ein Problem zustandegekommen ist, dessen Lösung in der Dritten Welt fast regelmäßig zu Hungeraufständen und Plünderungen geführt hat: der Streichung von Subventionen. Von der Währungsfrage einmal abgesehen, haben Modrow und die Reformkräfte in der SED auch auf wirtschaftspolitischem Gebiet einen Zeitgewinn für sich verbuchen können.

Wenig spricht derzeit dafür, daß die DDR einem Hungerwinter entgegengeht, viel aber dafür, daß die Bevölkerung sehr wohl weiß, daß ihr eine riesige Aufgabe ins Haus steht. Dem widerspricht durchaus nicht, daß hüben wie drüben dreckige Spekulationsgeschäfte gemacht werden. Das ist es aber eben: Die DDR besteht aus mehr als nur dem Augenschein.

Dietmar Bartz

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