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DDR schon auf dem Weg in die EG?

■ Regierungsmemorandum wünscht enge ökonomische und politische Kooperation mit der EG / Krenz räumt Möglichkeit seine Abwahl auf dem Dezember-Parteitag ein/ SED-Bezirkschef schlägt Parteineugründung vor

Brüssel/Ost-Berlin (ap/dpa/taz) - Die neue DDR-Regierung strebt offensichtlich eine enge Kooperation mit der Europäischen Gemeinschaft an. Das geht aus einem Memorandum des DDR-Regierungschefs Hans Modrow hervor, das dieser am Wochenende der EG übermittelt hat. In dem gestern bekannt gewordenen Dokument stellt die DDR freie, geheime und allgemeine Wahlen in Aussicht. Das hatte der EG-Sondergipfel am Samstag in Paris als Grundvoraussetzung für Hilfen an die DDR bezeichnet. Große Bedeutung wird in Brüssel der Tatsache beigemessen, daß die DDR auch eine politische Kooperation mit der EG anstrebt.

In dem Memorandum heißt es, die DDR sei im Kontext eigener Interessen und zur Förderung gesamteuropäischer Prozesse zur Zusammenarbeit mit der EG bereit. Sie begreife den geplanten EG-Binnenmarkt „als Herausforderung und Chance zugleich“, und wolle ihre Beziehungen zur EG zügig, kooperativ und konstruktiv entwickeln. Als eine der wichtigsten Äußerungen in dem Memorandum wird von EG-Experten folgender Satz gewertet: „Konsultationen mit der Europäischen Politischen Zusammenarbeit könnten zur politischen Normalität werden.“ In der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ), die als Vorstufe für einen europäischen Bundesstaat gilt, stimmen die Außenminister der Gemeinschaft ihre außenpolitische Haltung ab.

Ferner verspricht das Dokument tiefgreifende Reformen des politischen Systems der DDR, vor allem die entschiedene und weitreichende Ausgestaltung des sozialistischen Rechtsstaates sowie eine umfassende Wirtschaftsreform.

Erste direkte Kontakte mit der neuen DDR-Spitze hat gestern Kanzleramtsminister Rudolf Seiters aufgenommen. Die Mission wurde von Regierungssprecher Klein in Bonn als „Sondierungsgespräche“ ohne konkreten Verhandlungsauftrag bezeichnet.

Details der für die zweite Dezemberhälfte geplanten Reise von Bundeskanzler Kohl stünden nicht auf der Tagesordnung. Aus Bonner Regierungskreisen verlautete unterdessen, die Bundesregierung erwäge, mit einem Devisenfonds der beiden deutscher Staaten DDR-Besuchern einen akzeptablen Wechselkurs anzubieten.

Für Aufsehen sorgte gestern in Ost-Berlin ein Fernsehinterview mit Staats- und Parteichef Egon Krenz. Auf die Frage, ob er auch nach dem Sonderparteitag der SED im Dezember noch Parteichef sein werde, hatte Krenz die Möglichkeit eines Scheiterns eingeräumt: „Das ist eine Entscheidung meiner Partei. Ich habe immer die Entscheidungen meiner Partei getragen.“

In den vergangenen Wochen war Krenz trotz Wendepose immer wieder wegen seiner früheren Funktion als ZK-Sekretär für Sicherheit und den unter seinem Vorsitz begangenen Wahlfälschungen am 7. Mai dieses Jahres zum Rücktritt aufgefordert worden. Ob der demonstrative Umzug des Staatschefs aus der Prominentensiedlung Wandlitz in den Berliner Stadtbezirk Pankow einen Popularitätsschub bewirken wird, bleibt abzuwarten. Erstmals hat am Wochenende ein SED -Spitzenfunktionär die Existrenz der Partei in Frage gestellt. Der Leipziger Parteibezirkschef Roland Wötzel sagte in einer Talkshow des Westdeutschen Fernsehens, es könne sich die Frage einer Neugründung stellen. Es müsse diskutiert werden, ob eine Partei für diejenigen gegründet werden solle, die „ernst um den Sozialismus ringen.“

Wötzel unterstrich zudem die Auffassung von Beobachtern, nach denen die DDR unmittelbar nach den Feiern zum 40. Republikgeburtstag vor bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen stand. Der ehemalige Partei- und Staatschef Honecker habe einen schriftlichen Befehl an die Einheiten der Volksarmee unterzeichnet, den Protest auf der Staße niederzuschlagen. Es sei scharfe Munition ausgegeben worden. Der Superintendent von Leipzig-Ost berichtete, in den Krankenhäusern seien Betten und Blutkonserven bereit gestellt worden.

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