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CSSR-Opposition schließt sich zu „Bürgerforum“ zusammen

■ Vaclav Havel gibt Presekonferenz / 50.000 demonstratierten in Prag / Unklarheit über angeblichen Tod eines Demonstranten / Studenten beschließen einwöchigen Streik / Blockpartei distanziert sich von Repression / Prager Symphoniker senden Protesttelegramm

Prag (dpa/ap/taz) - Die tschechoslowakische Regierung unter Ladislav Adamaec ist wegen der Krise im Land am Sonntag abend zu einer Krisensitzung zusammengetreten, über deren Ergebnis bisher nichts bekannt wurde. Frantisek Pitra, der Stellvertretende Regierungschef wandte sich am abend in einer Sondersendung des Fernsehens an die Bevölkerung, forderte, Ruhe zu bewahren, und behauptete, die Oppositionsbewegung wolle einen „Umsturz“. Die Bürgerrechtsinitiativen der CSSR haben sich indessen zu einem „Bürgerforum“ zusammengeschlossen, das mit der Staatsführung Gespräche aufnehmen will, gab der Dramatiker Vaclav Havel am Montag bei einer Pressekonferenz in seiner Wohnung bekannt. Erstmals waren bei Havel auch Journalisten der offiziellen CSSR-Presse anwesend. Das Bürgerforum sei bereit, „mit jedem zu sprechen, der bereit ist, mit uns zu sprechen“. Das Forum fordert den Rücktritt der Politiker, die für den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes im August 1968 verantwortlich waren, sowie jener, die der „geistigen und wirtschaftlichen Verwüstung des Landes nach 1968“ schuldig sind. Namentlich wurden Staatspräsident Gustav Husak, Generalsekretär Milos Jakes sowie die ZK -Sekretäre Jan Fojtik und Karel Hoffmann und Gewerkschaftschef Miloslav Zavadil genannt. Weiter wird verlangt, daß - unter Beteiligung des Bürgerforums - eine Untersuchungskommission die Vorgänge am Freitag letzter Woche überprüfen soll, als die Sicherheitsorgane äußerst scharf gegen Teilnehmer an einer Demonstration vorgegangen waren. Diese Forderungen müßten in den tschechoslowakischen Massenmedien veröffentlicht werden.

Unklar ist das Schicksal jenes Studenten, Martin Smid, dessen Tod bei einem Polizeieinsatz am Freitag von Oppositionskreisen gemeldet worden war. Das tschechoslowakische Innenministerium behauptete, es gebe an der Karls-Universität zwei Studenten dieses Namens. Der eine sei überhaupt nicht auf der Demonstration gewesen, der andere habe zwar teilgenommen, sei aber unverletzt. Zur Glaubwürdigkeit dieser Version trägt nicht gerade bei, daß eine Zeugin, die Freundin des vermeintlichen Toten, verhaftet worden ist. Ebenfalls verhaftet wurden Petr Uhl, seine Frau Anna Sabatova, der Sprecher von Charta 77 Tomas Hradlicek und Jan Chudomel von der Unabhängigen Friedensorgansation NMS. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten durch die Weiterverbreitung der Nachricht über den „Tod“ von M.Smid „den Interessen der Republik im Ausland geschadet“.

Am Sonntag hatte aus Protest gegen den Polizeieinsatz vom Freitag eine Demonstration von etwa 50.000 Menschen stattgefunden. Sie forderten den Rücktritt der Regierung und des Parteichefs Jakes. Am Montag sind in Prag - und nach unbestätigten Meldungen auch in anderen Hochschulstädten der CSSR - mehrere Hundert Studenten in einen Sitzstreik getreten. Plakate an den Hochschulgebäuden machten auf diesen Protest aufmerksam. Auf Versammlungen beschlossen die Studenten, in einen einwöchigen Streik zu treten und forderten die Bildung einer unabhängigen Untersuchungskommission wegen der Vorfälle vom Freitag.

Das Parteiorgan der Tschechoslowakischen Sozialistischen Partei (CSS), „Svobodne Slovo“, hat am Montag das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen die Demonstranten vom Freitag scharf kritisiert. In einer vom Vorstand und den Mitgliedern der CSSR-Parlamentsfraktion unterzeichneten Erklärung, die „Svobodne Slovo“ auf der Titelseite abdruckte, wurden die Behörden des Landes aufgefordert, die Menschenrechte sowie politische Rechte wie die Versammlungsfreiheit anzuerkennen. Zum wiederholten Mal in diesem Jahr seien wehrlose Kundgebungsteilnehmer körperlich angegriffen worden. „Die Übergriffe der Polizei verschärfen die Spannungen in der Gesellschaft und wecken bei denen, die die Zukunft dieses Landes bedeuten, bei der Jugend, eine natürliche Abneigung“, hieß es in der „Svobodne Slovo“. Das Blatt berichtete von zahlreichen Protesten seitens von Künstlern, Kirchen und Intellektuellen gegen die polizeilichen Gewalttätigkeiten.

Die Mitglieder des Prager Symphonieorchesters, die sich auf einer vierwöchigen Konzerttournee durch Japan befinden, wandten sich schriftlich an die tschechoslowakische Botschaft in Tokio und kritisierten den brutalen Polizeieinsatz in ihrer Heimat. „Zwang und Gewalt werden niemals das Problem lösen“, hieß es in dem Brief, den der musikalische Direktor und Chefdirigent des Orchesters, Jiri Belohlavek, der Presse in Tokio vorstellte.

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