: Notmaßnahmen in der Sowjetunion
■ Preiskontrollen und Exportbeschränkungen sollen über den Winter helfen / Unternehmerische Freiheiten eingeschränkt
Moskau (dpa/afp) - Der Oberste Sowjet hat zum Wochenbeginn Notmaßnahmen beschlossen, die für den kommenden Winter die Versorgungsmängel vor allem für die ärmeren Bevölkerungsschichten lindern sollen. 317 von 391 Deputierten hatten für eine entsprechende Vorlage gestimmt, die vor allem auf verstärkte Preiskontrollen hinausläuft. Damit werden einige, im Zuge der Perestroika gerade eingeführten, unternehmerischen Freiheiten der Betriebe wieder einschränkt.
Die Maßnahmen sollen im letzten Quartal 1989 und im ganzen kommenden Jahr gelten. Im einzelnen sollen die Kontrollen der eingefroreren Preise für Fleisch, Milch, Butter, Öl, Margarine, Eier, Käse, Brot, Tee, Salz, Mehl und Dosenfisch verstärkt werden, die jedoch nur für staatliche Einzelhandelsläden gelten. Das oberste sowjetische Gesetzgebungsorgan will außerdem im kommenden Jahr Maßnahmen getroffen wissen, die den Mangel an Waschmittel, Zahnpasta, Rasierklingen, Frauenstrümpfen und Seife vermindern. Darüberhinaus wird die Moskauer Regierung aufgefordert, bis März 1990 ein Berechnungssystem für den Inflationsindex zu erstellen. Im gleichen Zeitraum sollen Regierung und Gewerkschaften ein Lohnausgleichsystem vorbereiten, das die Inflationsrate berücksichtigt und vor allem für „benachteiligte Gruppen“ gelten soll. Während die Behörden die Inflationsrate bei vier Prozent taxieren, beziffern Wirtschaftsfachleute sie auf zehn Prozent.
Zwei Paragraphen des Unternehmensgesetzes sind im Zuge der Notmaßnahmen für den genannten Zeitraum außer Kraft gesetzt worden. Zum einen dürfen die Unternehmen sich nicht mehr mit Handelsbetrieben auf Sonderpreise für Grundnahrungsmittel und knappe Konsumgüter einigen. Alle Preise müssen fortan für das ganze Land einheitlich festgelegt, und Güter des Massenbedarfs dürfen nicht mehr unkontrolliert exportiert werden. Wichtiger Baustein der Perestroika war die Neuerung, nach dem die sowjetischen Betriebe ihre Außenhandelsaktivitäten selbst bestimmen, und über die eingegangenen Devisen auch selbst verfügen können. Als zusätzliche Überlebenshilfe soll den ärmeren Schichten auch ein Kaufkraftausgleich zukommen.
Parteichefs von Moskau
und Leningrad abgelöst
Wenige Wochen vor Beginn der Kommunalwahlen in der Sowjetunion sind am Dienstag in den beiden größten Städten des Landes die als konservativ geltenden örtlichen Parteichefs abgelöst worden. In Moskau verlor Politbüromitglied Lew Saikow seinen Posten als Stadtparteichef und in Leningrad Anatoli Gerassimow, berichtete die 'Prawda‘ gestern. Wie ein Vertreter der Moskauer Parteiorganisation mitteilte, wurde der 66jährige Saikow zum ersten stellvertretenden Vorsitzenden des Verteidigungsrats ernannt. Seine Nachfolge tritt der bisherige stellvertretende Stadtparteichef Juri Prokofjew an, der als Reformer gilt. In Leningrad übernimmt der erst im Sommer von Gorbatschow zum Parteichef der Region ernannte Boris Gidaspow zusätzlich den Posten des Stadtparteichefs. Die Leningrader Partei wolle damit „größere Flexibilität“ erreichen und „unnötigen Parallelismus beseitigen“, hieß es. Die örtliche Parteiversammlung verabschiedete auch die Wahlplattform der regionalen Kommunisten.
Nach Ansicht von Beobachtern rechnen sich die Reformer innerhalb der KPdSU mit diesen Personalveränderungen höhere Chancen ihrer Partei bei den Kommunalwahlen im Frühjahr nächsten Jahres aus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen