: „Endlich ist dieser Alptraum vorbei“
Auch in der drittgrößten Stadt El Salvadors, San Miguel, wurde der Aufruf der FMLN zum Volksaufstand nicht befolgt / Die Menschen fürchten die Armee und sympathisieren mit der Guerilla / Aufräumarbeiten beginnen ■ Aus San Miguel Ralf Leonhard
Die junge Frau stürzt über die Straße, zwei kleine Kinder an der Hand, die älteste Tochter hinterher. Nena Flores ist verzweifelt. „Wo soll ich nur hin?“ ruft sie. „Man muß die anderen Leute rausholen. Überall liegen die Toten herum.“ Sie ist gerade unter dem Kreuzfeuer zwischen der salvadorianischen Armee und der FMLN-Guerilla aus ihrem Heimatbezirk Molino in San Miguel geflohen. Beim Herannahen eines Flugzeuges will sie instinktiv Deckung suchen und straft mit dieser Reflexhandlung Oberst Vargas Lügen, der gerade noch behauptet hat, die Luftwaffe habe keine bewohnten Gebiete bombardiert.
Molino ist einer der Bezirke der größten Stadt in der östlichen Landeshälfte El Salvadors, der am 11. November von der Guerilla eingenommen und anschließend neun Tage lang verteidigt wurde. Im Nachbarbezirk „15 de Septiembre“ ist gerade die Säuberungsaktion der Armee im Gange. Die Zivilisten, die in ihre Häuser zurückwollen, stehen mit weißen Fähnchen an einer Straßenecke. Sie warten auf das Ende der nur wenige Häuserblocks entfernten Schiesserei. Noch bevor der letzte Schuß verhallt ist, versuchen sie, in ihre Häuser zurückzukehren. Oberst Mauricio Vargas hat seine besten Leute aufgeboten, um das Terrain für die Armee zurückzuerobern: die „Kommandos Domingo Monterrosa“. Diese gestählten Kämpfer haben einen Trainingslehrgang hinter sich, den selbst die wenig zimperlichen US-Berater „unmenschlich“ finden. 30 Prozent sollen während des Kurses durch Tod oder Verletzung ausgefallen sein.
„Hier ist alles ruhig, wir haben alles unter Kontrolle“, behauptet Leutnant „Tiger“, der mit ein paar Mann in einem zerschossenen Wohnhaus Stellung bezogen hat. Den Begleitschutz seiner Leute lehnen die ausländischen JournalistInnen dankend ab. Eine Straße weiter wird schon deutlich, daß die Armee keineswegs alles unter Kontrolle hat: Ein paar Soldaten huschen in geduckter Haltung, das M -16 im Anschlag, durch die Häuserzeile, Schüsse pfeifen durch die Luft, ohne daß man erkennen könnte, wo sie herkommen. Wir sind mitten in die Rückzugsgefechte der Guerilla hineingeraten.
Der 56jährige Campesino Andres Zavala ist der erste, der wieder von seinem Haus Besitz ergreift. Er hat Glück gehabt: Sein Haus ist nicht, wie viele andere in der Nachbarschaft, durch Artilleriegeschoße oder Raketen verwüstet worden. die „Muchachos“ - so werden die Guerilleros von den mit ihnen sympathisierenden SalvadorianerInnen genannt - hätten sich die ganze Woche hindurch gut benommen, erzählt Zavala. Über Nacht hätten sie jedoch plötzlich das Feld geräumt. Die Gefechte, die den ganzen Vormittag in den umkämpften Zonen tobten und deren letzte Phase gerade im Gange ist, werden zwischen den Stoßtrupps der 3. Infanteriebrigade und einigen wenigen Scharfschützen ausgetragen, die den Rückzug der FMLN -Truppen decken. Die Verluste der Guerilla sind deshalb relativ gering. Die Leichen der FMLN-Kämpfer liegen entweder in Schützengräben oder in einem der Wohnhäuser, in dem sie sich verschanzt hielten. Wenn den Guerilleros die Munition ausgeht und sie den Rückzug nicht mehr schaffen, jagen sie sich selbst die letzte Kugel durch den Kopf. Das Gros der FMLN-Einheiten, die von Oberst Vargas auf 700 bis 1.500 Mann geschätzt wurden, hat sich längst über den Fluß in das nahegelegene Hügelland abgesetzt, wo ständig MG-Salven und dumpfe Detonationen zu vernehmen sind.
Im Barrio Lopez an der nördlichen Ausfallstraße, kaum einen Kilometer vom Sitz der Brigade entfernt, tobten noch am Sonntag die schwersten Kämpfe seit Beginn dieser Offensive. Montag nachmittag gehört die Hauptstraße dem Bataillon Arce. Unzählige Patronenhülsen verschiedenen Kalibers, Einschüsse oder Löcher in der Größe eines Basketballs in den Hauswänden und eine hausgemachte Brandbombe, die nicht detoniert ist, zeugen von den vergangenen Kämpfen. Zwei tote Soldaten im Zustand fortgeschrittener Verwesung, die unter einem Containerwagen liegen, werden gerade in Plastiksäcke gesteckt und abtransportiert. Hundert Meter weiter stadtauswärts geht plötzlich eine Schießerei los.
„Endlich ist dieser Alptraum vorbei“, seufzt eine Frau, die Erfrischungsgetränke und Kokosnüsse verkauft. Die EinwohnerInnen, die nicht gleich in den ersten Tagen in eines der Auffanglager geflüchtet sind, haben neun apokalyptische Tage hinter sich. Von den über 300 ZivilistInnen, die im San-Juan-de-Dios-Spital liegen, haben etwa zwei Drittel Schrapnellverletzungen. Acht Personen sind ihren Verwundungen erlegen, erzählt der diensthabende Arzt. In einem separaten, schwer bewachten Raum, liegen rund 35 verwundete Guerilleros, die von Rot-Kreuz-HelferInnen aus den Kampfzonen geholt wurden. Der Arzt fürchtet um ihr Leben, denn sobald sie geheilt sind, sollen sie der Militärjustiz ausgeliefert werden.
Der Aufruf zum Volksaufstand, den das FMLN-Oberkommando zwei Tage nach Beginn der Offensive an die Zivilbevölkerung ergehen ließ, ist in San Miguel ebenso ungehört verhallt wie in den anderen Städten. Die meisten Leute wissen zwar nichts Böses über die Guerilleros zu berichten und fürchten die Armee mehr als alles andere, doch kaum eineR kann sich mit der Sache der FMLN identifizieren. Viele beklagen sich, daß sie gezwungen wurden, Schützengräben auszuheben oder Barrikaden zu errichten, bevor sie gehen durften. „Bringt euch in Sicherheit, hier wird bald gekämpft werden“, sollen die Guerilleros geraten haben, berichtet die 27jährige Maria Romelia Soto. Sie hat sich mit ihren drei Kindern in eine Schule geflüchtet. Hier gibt es zwar Essen für die über 300 Obdachlosen und Flüchtlinge, doch kaum einer hatte Zeit, Decken oder ausreichend Kleidung mitzunehmen. Der Steinboden in den Klassenräumen ist hart, die Nächte sind kalt um diese Jahreszeit. Deswegen erwarten alle mit Ungeduld die Meldung, daß die Kämpfe zu Ende sind und sie in ihre Häuser zurückkehren dürfen - oder in das, was davon übriggeblieben ist.
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