: „Offener Dialog“ vorerst auf der Straße
■ Hunderttausende fordern auf dem Prager Wenzelsplatz und in anderen Städten den Rücktritt der CSSR-Führung
Der Zug ist zwar längst abgefahren, doch die Stalinisten in der Prager Führung, allen voran Parteichef Milos Jakes, wehren sich vehement gegen die Zeichen der Zeit. Die politische Initiative liegt inzwischen bei Ministerpräsident Ladislav Adamec, der bereits mit Vertretern der oppositionellen Bewegungen verhandelt hat. Auch Alexander Dubcek, Symbolfigur des Prager Frühlings 1968, meldet sich zurück. Die Prager Studenten indes fordern in einer Erklärung die Bevölkerung für den 27. November zum Generalstreik auf.
Noch wehren sie sich mit Händen und Füßen gegen die Erkenntnis, daß ihre Zeit aufgelaufen ist. Die Stalinisten in der Prager Führung, allen voran Parteichef Milos Jakes, inszenieren in altbekanntem Stil „Zustimmung“ aus der Bevölkerung für ihren Kurs. Während Regierungschef Ladislav Adamec immerhin eine zehnköpfige Delegation mit Vertretern der protestierenden Studenten, Künstlern sowie des neugegründeten Bürgerforums empfing, war sich der Parteichef nicht zu schade, seinerseits einer Delegation aus Kladno die Hand zu reichen, die ihm die vollste Unterstützung zusagte. Und bei dieser Gelegenheit forderten die Beteiligten strenge Maßnahmen gegen jene Kräfte, die versuchten, die „Gesellschaft zu spalten“. Den „antisozialistischen Kräften“ müßte die „Arbeiterklasse“ Einhalt gebieten, forderte Jakes dann sogar im Fernsehen. Das Vehikel der Revolte seien die Jugend und die Künstler, analysierte er treffsicher und bestätigte seinen ins Feuer der Kritik geratenen Prager Parteichef Miroslav Stepan, der die Jugendlichen durch die „Feinde des Sozialismus mißbraucht“ sah.
Doch der Zug ist schon in eine andere Richtung abgefahren. Denn die politische Initiative innerhalb des Regimes liegt jetzt schon bei Ministerpräsident Adamec. Als die Delegierten der demokratischen Volksbewegung am Dienstag nachmittag nach der Unterredung mit dem Regierungschef vom Balkon der Tageszeitung 'Svobodne Slovo‘ (Redefreiheit) zu den über 200.000 Demonstranten der demokratischen Volksbewegung sprachen, gaben sie ein erstes Resultat der Verhandlungen bekannt: die Sicherheitskräfte würden in Zukunft nicht mehr gegen Demonstranten vorgehen. Weiterhin hätte Adamec ihnen versichert, daß die Regierung den „politischen Reformen“ Vorrang geben werde, sich jedoch nicht dem Druck der Straße beugen wolle.
Mit solchen Redewendungen sind auch in der CSSR die Menschen nicht mehr zu beruhigen. Die Demonstranten forderten den Rücktritt der Regierung. „Jakes raus“, „Hoch lebe Vaclav Havel“, „Freiheit“, „Menschenrechte“, „Dubcek“ und „Keine Gewalt“ waren die Parolen. Als die Delegationen aus den Fabriken ihre Spruchbänder mit der Aufschrift „Die Arbeiter sind mit Euch“ entfalteten, brandete Jubel auf. Überhaupt, die Arbeiter: die Streikbewegung beginnt sich zu formieren. In zwei Minen nahe der polnischen Grenze wird schon gestreikt, in der Region in Ostrava sollte gestern ebenfalls die Arbeit niedergelegt werden. In den Universitäten dagegen ist die Streikbewegung weiter. Am Mittwoch waren es schon mehr als 80.000 Studenten, die den Vorlesungen fernblieben. Und auch an den Gymnasien formiert sich der Widerstand. Die Theatersäle stehen weiterhin für Diskussionen zur Verfügung.
Die Initiatoren des Bürgerforums bleiben aber vorsichtig und vermeiden vorläufig noch die offene Konfrontation. Der Tod des Studenten Martin Smid hat sich zwar inzwischen aufgeklärt: das Bürgerforum hat die Nachricht über seinen Tod dementiert, Autor Petr Uhl sei einer Fehlinformation aufgesessen gewesen. Doch hatte die Nachricht tagelang symbolische Funktion: dem Regime ist alles zuzutrauen. Auch die Provokationen häufen sich. Durch die Geheimpolizei werden Flugblätter in Umlauf gebraucht, auf denen der „Tod der Kommunisten“ gefordert wird. Mit dem Hinweis, noch hätten die Herrschenden die Gewehrläufe auf ihrer Seite, deuten die Oppositionellen darauf hin, daß sie um die Irrationalität der Machthaber wissen.
In dem Forum sitzt ja auch nicht irgendwer: Diesem am Sonntag abend gegründeten Aktionszentrum haben sich neben der Charta 77, dem Verein Unabhängiger Intelligenz, der Bewegung für Bürgerfreiheit, dem Art Forum, den Unabhängigen Studenten, dem Ausschuß zum Schutz zu Unrecht Verfolgter, dem tschechischen Zentrum des PEN-Clubs, dem Künstlerverein inzwischen noch andere Vereine und Organisationen angeschlossen. Ihnen geht es zunächst einmal darum, einige Nahziele zu erreichen: den Rücktritt derjeniger Politiker (Husak, Jakes, Fojtik, Zavadil, Hoffmann und Indra), die unmittelbar in die Intervention von 1968 verstrickt waren. Weiterhin fordern sie den sofortigen Rücktritt der für den Polizeieinsatz vom Freitag Verantwortlichen, von Innenminister Kincl und dem Prager Parteichef Stepan, die Einsetzung einer Kommission unter Beteiligung des Bürgerforums - um weitere Schuldige festzustellen und zu bestrafen - sowie die Freilassung aller Gewissenshäftlinge. Außerdem, und das steht schon im ersten Dokument, unterstützt das Bürgerforum den Aufruf zu einem zweistündigen Generalstreik am nächsten Montag.
Eine ganz handfeste Unterstützung erhielt die demokratische Volksbewegung von seiten der katholischen Kirche. Am Dienstag rief der Prager Kardinal Frantisek Tomasek die Gläubigen dazu auf, sich in dieser „verhängnisvollen Stunde der tschechoslowakischen Geschichte“ nicht abseits zu halten - ein wichtiges Zeichen dafür, daß weder die Regierung noch die Partei länger Herr der Lage ist. Am Samstag schon wagten erste Pressestimmen, am Lack der Herrschenden zu kratzen. Die Zeitung der Sozialistischen Partei, 'Svobodne Slovo‘, veröffentlichte am Samstag mehrere Leserbriefe von Basisgruppen der Partei, in der der Polizeieinsatz verurteilt wird. Am Dienstag druckte sie einen Streikaufruf der Prager Studenten an die Arbeiter und Bauern des Landes ab. Und die Zeitung berichtete weiter über ein Treffen von 400 Journalisten am Montag abend, die den Studenten und dem Bürgerforum ihre Solidarität aussprachen. Und auch die Zeitung der Christdemokraten 'Lidova Dkrace‘ veröffentlichte am Dienstag den Aufruf des Bürgerforums mit den Rücktrittsforderungen an die Parteispitze. Selbst das Fernsehen und die Radiostationen berichteten über die landesweiten Demonstrationen. Die nächsten Tage werden die Entscheidung bringen. Vaclav Havel, der inzwischen zu einem Volkshelden aufgestiegen ist, kündigte an, im Lande zu bleiben und nicht nach Stockholm zur Verleihung des Olof -Palme-Preises zu reisen. Er wolle dem Regime für diese Ausreise keine Visitenkarte für deren Liberalität verschaffen.
Erich Rathfelder
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