: Hoffen auf den großen Bruder
Bei der Leipziger Montags-Demonstration waren gesamtdeutsche Töne unüberhörbar / „Keine Experimente“ / Schweigeminute wegen Prager Polizeiübergriffe / Stimmungsumschwung aus Skepsis gegenüber eigener Kraft ■ Aus Leipzig A. Smoltczyk
Ein neuer Ton war zu hören auf dem Leipziger Ring am Montag abend. Da gab es einen jungen Mann vor dem Stasigebäude, der ein Schild trug „Gegen die Wiedervereinigung“, und von Demonstranten als „Provokateur“ beschimpft wurde. Das Volk, rief jemand, dürfe mit derartigen Transparenten nicht vor den Kopf gestoßen werden. Das ist neu: noch vor zwei Wochen wären im Gegenteil gesamtdeutsche Parolen als Stasi -Provokation verstanden worden.
„Ich bin Werkzeugmacher und heiße Hans Teschnau“, stellte sich ein Mann auf der Kundgebung am Opernhaus vor. Er habe vierzig Jahre Sozialismus ertragen und keine Lust mehr auf einen neuen Versuch: „Keine Experimente mehr! Wir sind keine Versuchskaninchen.“ Zumal es doch vor der Haustür ein immerhin funktionierendes Gegenmodell gäbe. Freie Marktwirtschaft und Wiedervereinigung seien der einzige Ausweg aus der Misere, folgerte er und forderte, darüber einen Volksentscheid durchführen zu lassen.
Ein Ausrutscher? Eine Panne, die der Weigerung der basisdemokratischen Veranstalter geschuldet ist, Redebeiträge vorzufiltern? Die Reaktion der vielleicht 150.000 auf dem Karl-Marx-Platz war eindeutig: langer Beifall und Sprechchöre „Deutschland einig Vaterland“. Diese - nie offiziell gesungene - Strophe aus der DDR -Nationalhymne wurde wiederholt von der Mehrheit der Anwesenden skandiert und war auch auf vielen Transparenten zu lesen. Dagegen erntete ein Medizinstudent namens Ralf Günther laute Pfiffe, als er sich schockiert über die Deutschtümelei äußerte und erklärte, die Diskussion um die deutsche Einheit sei „Wasser auf die Mühlen der Braunen“. Das Neue Forum bekräftigte seine Absage an die Wiedervereinigung. Die DDR dürfe nicht das Armenhaus eines Großdeutschland werden. Der Beifall zu diesem an sich selbstverständlichen Statement hielt sich überraschenderweise ebenfalls in Grenzen.
Starken Applaus bekamen die populistischen Redner. Als Jürgen Lahmi vom VEB „VTA Leipzig“ meinte, die DDR könne nicht arm an Devisen sein, da sich Honecker und Krenz gegen sechsstellige Dollarbeträge in den USA hätten operieren lassen, pfiff der Platz - er pfiff aber auch, als wenig später der Hallenser Arzt Dr. Wolf erklärte, sein eigener Vater habe Honecker operiert, und zwar im Regierungskrankenhaus Berlin: „Wir dürfen die neue Wahrheit nicht mit Lügen beginnen, auch wenn sie uns in den Kram passen“, rief er aus.
Vorwurf an die SED, Beifall
für die Bundesregierung
Die Leipziger Losung „Wir sind das Volk“ hat am Montag einen Nebengeschmack bekommen und mag manchem nicht mehr so einfach über die Lippen kommen. Es scheint, daß das Aufdecken des tatsächlichen Ausmaßes von Korruption, Mißwirtschaft und Verschuldung es „dem Volk“ schwer macht, noch an einen eigenen Weg aus dem Sumpf zu glauben, zumal das Vertrauen in die reformerischen Fähigkeiten der SED auch daran ließ die Demo keinen Zweifel - in keiner Weise zugenommen hat.
Der klammheimlich nagende Zweifel an der eigenen Kraft droht umzuschlagen in eine vage Hoffnung, die sich auf die Stärke des großen Bruders im Westen stützt. Demonstrativen Beifall bekam ein Redner, der der SED-Regierung Knauserigkeit in Sachen Reisegeld vorwarf und sich bei der Bundesregierung für die 100 Westmark bedankte. „Wir sind das Volk“, aber wir sind es nicht alleine, es gibt Verstärkung jenseits der Grenze - so ähnlich mögen manche die berühmt gewordene Losung jetzt lesen.
Dennoch: der beeindruckendste Moment der Leipziger Kundgebung war die absolute, durch kein Husten und Niesen unterbrochene Stille, die sich über den Platz legte, als ein Sprecher des Neuen Forums zur Schweigeminute für die Opfer auf seiten der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung aufrief. Da war kein Ton zu hören, auch kein falscher.
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