: Learning by doing in der Ost-Sozialdemokratie
■ Diskussionen zwischen West- und Ost-Sozis / „Kein Rückfall in den deutschen Nationalstaat“ / DDR-Opposition hält sich für fähig, Regierungsverantwortung zu übernehmen / Auch SED soll Verantwortung übernehmen / Fehler des Westens sollen vermieden werden
Die Zeiten sind hart, aber historisch! Diese Abwandlung des alten italienischen Sprichwortes drängte sich auf, als am Donnerstag abend wieder einmal eine „historisch neue Veranstaltung“ eröffnet wurde: die erste öffentliche Diskussion der West-SPD, an der Vertreter der Ost-SDP und verschiedener DDR-Oppositionsgruppen teilnahmen.
„Was ist los in Berlin? Was geschieht in der DDR?“ hatten die Kladower Sozialdemokraten sich und ihre Mitbürger gefragt - und die Resonanz war beachtlich. Mehr als 120 Interessierte waren trotz Schnee und Kälte ins BSR -Freizeitheim gekommen, wo neben Prof. Gerhard Heimann, dem Berliner Bundestagsabgeordneten und deutschlandpolitischen Sprecher der SPD, Mitglieder von Demokratie jetzt, Neues Forum und SDP versuchten, Antworten zu finden.
„Hinter dem Selbstbestimmungsrecht der DDR-Bürger dürfen wir uns nicht verschanzen und vergessen, unsere Vorstellungen einer gemeinsamen Zukunft zu entwickeln!“ Heimann, der in seinen einleitenden Bemerkungen ein Szenario bis hin zum Friedensvertrag entwarf, arbeitete mit diesen Worten den Sinn derartiger deutsch-deutscher Diskussionsrunden klar heraus: „Ein Rückfall in den deutschen Nationalstaat kann kein Fortschritt sein!“
Applaus erntete der SPD-Parlamentarier auch für seine Auffassung, daß, „wenn die DDR eines Tages ein demokratischer Rechts- und Sozialstaat sein wird, die Beziehungen von West-Berlin zur DDR, gelinde gesagt, ebenso gut sein werden wie die zur BRD!“
Ob denn die jetzigen Oppositionsparteien in der Lage seien, die Regierungsverantwortung zu übernehmen - gleich die erste Frage aus dem Plenum. Die Antwort von östlicher Seite war eindeutig: „Ich würde mit einem klaren Ja antworten“, so Conrad Elmer (SDP). Denn selbst wenn dem jetzt noch nicht so sei, bis zum kommenden Herbst habe die Opposition klare Strukturen, und außerdem würden ja zunächst nur Parlamentsabgeordnete gewählt: „Und nicht jeder Abgeordnete muß ein guter Ministerpräsident sein!“ Elmer: „Ich bin für das Prinzip 'learning by doing‘ und halte es für eine Lüge, daß regieren so schwer ist, daß man es besser anderen überläßt.“ Reinhard Pump vom Neuen Forum wies allerdings auch darauf hin, daß man langfristig auch die SED mit in die Verantwortung nehmen müsse, denn sie verfüge über große Potenzen.
Selbstkritische Töne dann von einem SPD-Veteranen: „Wir haben in der BRD auch noch einiges nachzuholen - in erster Linie die Wirtschaftsdemokratie! Ihr in der DDR müßt die Errungenschaften eures Staates erhalten, sonst habt ihr bald die Zwei-Drittel-Gesellschaft.“ Doch die Frage nach der „sozialistischen Identität“, die sich hier - fast zwingend anschloß, erwies sich als heißes Eisen. „Dieser Begriff ist bei uns so abgegriffen, daß er von den linken Kräften erstmal mit neuem Leben erfüllt werden muß“, so Pump. Seine Utopie sei „die Drei-Drittel-Gesellschaft, bei der niemand unter Brücken schlafen muß“.
Demokratie, Ökonomie und Ökologie - das waren die zentralen Themen, um die sich im weiteren Verlauf alle drehte. Spannend dabei vor allem zu beobachten, wie besorgt auch viele Westbürger über den drohenden „Ausverkauf“ der DDR sind: „Schließlich waren diese wirtschaftlichen Probleme ja einst der Grund, die Mauer zu bauen!“
Es zeigte sich, daß die DDR-Vertreter durchaus konkrete Vorschläge zu einer Vielzahl dieser Fragen parat hatten: So solle Bauland z.B. nur verpachtet, nicht etwa verkauft werden; Subventionen sollten abgebaut und das Geld lieber direkt an die Bedürftigen ausgezahlt werden. Den „Verpackungswahn“ der westlichen Länder wolle man nicht mitmachen. In Großbetrieben wolle man Investitionen bis zu 49 Prozent zulassen und Wirtschafts- und Sozialräte gründen.
Hilfe aus dem Westen sei da durchaus gefragt, aber, wie Elmer betonte: „In erster Linie möchten wir von ihnen erfahren, welche Fehler wir vermeiden sollten!“
Tomas Klünner
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