: Sternstunde des Fernsehens
■ Völlig unübliche Respektlosigkeit gegenüber Krenz im ARD-Interview
Für an Ernst-Dieter Lueg oder Horst Schättle gewöhnte Fernsehschauer war es eine Sternstunde des Journalismus, die ihnen am Donnerstag abend „in die erste Reihe“ serviert wurde. Eine dreiviertel Stunde lang knöpfte sich ARD-Mann Pleitgen den SED-Generalsekretär Egon Krenz vor: hartnäckig und respektlos, wie es sich eigentlich gehört, und ohne eine Chance zu geschwätziger Politikerselbstdarstellung, die sonst aus unseren Bildschirmen wallt: Warum Krenz sich „als erwachsener Mann“ von Honecker in Zwangsurlaub schicken ließ, warum er heute von seiner Lobhudelei für die chinesische Regierung nichts mehr wissen will, wann genau er - aber bitte mit exakter Zeitangabe - sich an jenem 9.Oktober um eine friedliche Lösung in Leipzig gekümmert haben will und was er eigentlich gegen Wolf Biermann hat? Fritz Pleitgen, als ehemaliger USA-Korrespondent der ARD amerikanischen Interviewstil gewohnt, ersparte dem deutlich unterlegenen Krenz keine Zwickmühle bis hin zu der Frage, ob es stimme, daß er Alkoholiker ist.
Bundesdeutschen Fernsehzuschauern muß der Atem gestockt haben - nicht nur ob der hilflosen Antworten des immer an falscher Stelle grinsenden SED-Generalsekretärs, sondern ob der Respektlosigkeit des Interviewers. So also kann Journalismus auch sein, so erhellend und entlarvend könnten Fernsehinterviews sein, wenn es bei uns nicht gängige Journalistenpraxis wäre, Augen und Stimme unterwürfig um so tiefer zu senken, je höher ein Politiker sitzt.
Und so gerieten die 45 Minuten „Egon Krenz nackt“ im Rahmen dieses bundesdeutschen Fernsehprogramms dennoch auch zu einem zwiespältigen Medienereignis. Solange nämlich andere Staatsmänner weiterhin von Journalisten mit Glacehandschuhen angefaßt werden und die Bonner Journalistenschar einen Troß devoter Hofnarren bildet, ist das Krenz-Interview die einsame Ausnahme von der Regel. Und als diese Ausnahme bleibt an dem journalistischen Highlight ein saftiges Stück von der westlichen Überheblichkeit haften, die Kanzleramtsminister Seiters gerade bei seinem DDR-Besuch aus all seinen Poren strömen ließ: Egon Krenz derjenige, mit dem man es eben machen kann, nicht weil er soviel mehr Dreck am Stecken hat als andere Politiker in Ost und West, sondern weil er ein Staatsmann aus der DDR ist. Und allem, was von dort kommt, fühlt man sich ohnehin überlegen.
Wollen die bundesdeutschen Fernsehmacher diesen „seitomanischen“ Zungenschlag der Überheblichkeit nicht auf sich sitzen lassen, müßten solche Krenz-Kreuzverhöre allabendlich Schule machen. Dann dürften wir uns jetzt schon freuen auf die Frage an einen Verteidigungsminister Stoltenberg, ob er tatsächlich ein Mordkomplott gegen seinen Parteikollegen Barschel geschmiedet habe. Gespannt warteten wir auf Wirtschaftsminister Haussmanns Antworten zur Verwicklung der Bundesregierung in die U-Boot-Affäre mit Südafrika. Und welch Fernsehvergnügen steht uns erst bevor, wenn ein beleidigter Bundeskanzler wutschnaubend das Fernsehstudio verläßt, während sein Intimus Ernst-Dieter Lueg vor laufender Kamera noch fragt: „Herr Bundeskanzler, leiden Sie vielleicht an Freßsucht?“
Vera Gaserow
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