: Nachlese einer Reise
■ Scharfe jüdische Kritik an der Polenreise von Bundeskanzler Kohl
Bonn (taz) - Es muß ja nicht unbedingt amüsant zugehen in dieser Rubrik: Die immer noch eintreffenden Reaktionen auf die Polenreise von Kanzler Kohl sind ebensowenig zum Lachen wie es diese Reise selbst war. „Plattgedrückt vom Feingefühl“ - mit diesen Worten betitelt die gestrige Ausgabe der 'Allgemeinen jüdischen Wochenzeitung‘ eine scharfe Kritik am Verlauf dieses Staatsbesuchs. Das Blatt, herausgegeben vom Zentralrat der Juden, schreibt: „Was im Zusammenhang mit der Polenreise geschah, war nicht nur unabsichtliches Auf-die-Zehen-treten, es war handfester Mißbrauch der in Deutschland lebenden Juden aus einem politischen Anlaß, zum höheren Ruhm des Kanzlers und seiner Partei.“
Die bereits bekannten Fehltritte von Kohl und seiner Truppe ergänzt die jüdische 'Allgemeine‘ noch um eine weitere Episode: Ausgerechnet einen Eisenbahnwaggon hat das Familienministerium zum Symbol der Versöhnung gewählt für das Land, in dem Auschwitz liegt. In dem umgebauten Bundesbahnwagen sollen sich Jugendliche begegnen; ein Miniaturmodell wurde jetzt bei einem Besuch in Auschwitz überreicht. Ein Sprecher des Ministeriums meinte dazu, man sei sich des Assoziationsgehalts dieses Geschenks wohl bewußt gewesen, habe sich aber dennoch dafür entschieden. Der Kommentar des jüdischen Blatts: „Dem Bundeskanzler, seinem Regierungssprecher und der Jugendministerin sei angelegentlich empfohlen, sich im Rahmen politischer Erwachsenenbildung Claude Lanzmans Film Shoah anzusehen, um zu lernen, was der Assoziationsgehalt von Eisenbahnwaggons für Überlebende sein kann.“
Reaktion Nummer zwei: Der Bund der Vetriebenen wird nicht müde, Kohls Standfestigkeit gegenüber „polnischen Gebietsansprüchen“ zu rühmen. Ganz richtig gelesen: Nicht um deutsche Gebietsansprüche geht es, sondern um polnische. Polen habe nämlich, so schreibt der Vertriebenen-Vorstand in einer Erklärung, „unberechtigte und vertragswidrige Anerkennungsansprüche“ auf die „deutschen Ostprovinzen“. Nachdem sich der Kanzler trotz Bundestagsresolution weigerte, die polnische Westgrenze vor Ort explizit anzuerkennen, fühlen sich die Vertriebenen offensichtlich ermutigt, in ihrem Duktus immer frecher zu werden. Nun verlangen sie „von allen Regierungsorganen“ und von der „Öffentlichkeitsarbeit der Parteien“ gar „Rechtsgehorsam“ nach ihrer Fasson: Nämlich wie Kohl „nicht einen Millimeter“ über den Warschauer Vertrag hinauszugehen.
So sieht also die Bilanz dieser Reise aus: Juden sind empört, Vertriebene frohlocken. Wirklich historisch, das alles in vier Tagen geschafft zu haben!
Charlotte Wiedemann
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